Stadt, Land, Kuss
Meine Beine zittern nach der anstrengenden Fahrt. Ich folge ihnen hinaus auf den Hof eines modernen Gebäudes und entdecke ein Schild mit der Aufschrift »Westleigh Pferdeklinik«.
Sofort sind wir von Menschen umringt. Es sind zwei Pferdepfleger, der Tierarzt mit einem Stethoskop um den Hals, sein Anästhesist, sein Assistent und zwei Tierarzthelferinnen. Alex stellt mich dem Tierarzt vor – er heißt John und arbeitet seit vier Jahren in Westleigh. Er hat einen festen, ruhigen Händedruck, was hoffentlich darauf schließen lässt, dass er ein guter Chirurg ist.
»Sie muss sofort rein. Wir dürfen keine Zeit verlieren«, sagt Alex schroff. Er versucht zu verbergen, wie verzweifelt er bei dem Gedanken ist, sein liebstes Pferd zu verlieren, aber es gelingt ihm nicht. »Ich glaube kaum, dass sie es schafft, egal, was wir machen.«
»Unsere Überlebensraten hier in Westleigh sind ziemlich hoch«, entgegnet John. »Achtzig Prozent unserer operativ behandelten Kolikpatienten erholen sich vollständig. «
Ich schaue Alex an, sehe die angespannten Wangenmuskeln, und mir schnürt sich die Kehle zu, weil ich weiß, dass er gerade an die anderen zwanzig Prozent denkt …
»Ich bringe Sie rein, dann können Sie den ganzen Papierkram erledigen. In OP-Saal eins gibt es eine Besuchergalerie, falls Sie hierbleiben und zusehen wollen.«
»Ich will assistieren«, entgegnet Alex.
»Oh, ich weiß nicht. Ich meine …«
»Ich werde mich nicht einmischen, versprochen«, fällt ihm Alex ins Wort. Er streichelt Libertys Hals.
»Wir lassen grundsätzlich keine …«
»Ich muss das tun.«
»Na gut«, beugt sich John der stählernen Entschlossenheit in Alex’ Stimme.
»Und Maz kommt auch mit«, fügt Alex in einem Ton hinzu, der keinen Widerspruch duldet.
»Meinetwegen. Los, wir bringen Liberty in die Box, verpassen ihr eine Narkose und bereiten alles vor.«
Ich rufe kurz bei Izzy an und erkundige mich, ob alles in Ordnung ist, dann folge ich dem Rest des Teams und ziehe mich für die Operation um. Im Otter House ist alles ruhig, auch Emma hat sich noch immer nicht gemeldet.
Die beiden Pferdepfleger von vorhin bringen Liberty in einer fahrbaren Hebevorrichtung herein. Sie liegt auf dem Rücken, und ihre Beine sind zusammengebunden. Der Anästhesist befestigt den Luftröhrentubus am Narkosegerät und schließt Liberty an die Monitore an. Die Pferdepfleger lösen die Bänder um ihre Beine und legen sie auf gepolsterten Kästen und Schaumstoffkeilen zurecht. Die Tierarzthelferinnen rasieren das Fell an ihrem Bauch weg und säubern ihre Haut. Schließlich kommt John, die Finger seiner OP-Handschuhe zurechtzupfend, in den Raum. Hinter ihm folgt Alex in OP-Kleidung mit Maske, Haube und Handschuhen. Ich sehe nur seine dunklen Augen, die entschlossen auf Liberty gerichtet sind.
Ich trete zurück, bereit zu helfen, falls ich gebraucht werde. Ich kann kaum hinschauen, doch als ich am Rand des Lichtkreises stehe, den die OP-Lampe über Johns und Alex’ Kopf erzeugt, wird mein Blick unweigerlich vom Darm der Stute angezogen, der aus ihrem Bauch quillt und den die beiden Männer mit vereinten Kräften entwirren.
Ich höre Alex’ erhobene Stimme, sehe seine präzisen Gesten, als er während der Operation auf etwas hinweist. Ich weiß nicht, wie lange der Eingriff dauert, zwei, vielleicht drei Stunden. Als John die Bauchdecke der Stute verschließt, schaue ich auf die Uhr. Es ist nach elf. Ich höre, wie Alex scharf ausatmet, und zusammen treten wir hinaus in den kühlen Vorraum.
»Darf ich?«, fragt Alex, ehe er die Bänder im Rücken meines Kittels löst und ihn mir abnimmt.
»Danke.«
Alex steht schräg neben mir, die Hände in den Taschen vergraben und das Gesicht noch immer von Sorge gezeichnet.
»Die Operation ist doch ziemlich gut verlaufen«, sage ich, um ihn aufzumuntern.
»Besser, als ich erwartet hatte«, antwortet Alex, aber er klingt skeptisch.
Wahrscheinlich tut er gut daran, nicht zu optimistisch zu sein. Die Natur hat Pferde nicht für lange Narkosen geschaffen. Liberty hat die Operation zwar überstanden, aber es besteht nach wie vor die Möglichkeit, dass sie nie wieder aufsteht.
Alex und ich warten noch ein paar Stunden vor der Aufwachbox. Drinnen schlägt Liberty mit den Beinen. Es tut mir in der Seele weh zu hören, wie ihre Hufe gegen die Wände und über die Matten scharren, mit denen die Box gepolstert ist, und wie ihr Körper schwer wieder zurück auf den Boden fällt. Alex geht es vermutlich
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