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Stadtfeind Nr.1

Stadtfeind Nr.1

Titel: Stadtfeind Nr.1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Tropper
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die Seiten, in denen es um meine Besessenheit von Sammys Mutter ging, nicht lieber weglassen sollte. Ich machte mir Sorgen, Lucy könnte das Buch eines Tages vielleicht lesen. »In dem Augenblick, in dem du, wenn du dein Buch druckfertig machst, in Betracht ziehst, wie es aufgenommen werden könnte, hast du die Unverfälschtheit des ganzen Werks in hohem Maße kompromittiert«, erklärte mir Owen düster.
    »Es ist Belletristik«, betonte ich matt.
    »Der belletristische Autor ist bis ins letzte Detail ebenso verantwortlich für die Wahrheit wie der Sachbuchautor«, sagte Owen von oben herab. »Sogar noch mehr, da er nicht den Zwängen der zu berücksichtigenden Tatsachen unterliegt.«
    »Das ist doch ein Widerspruch in sich, oder nicht?«
    »Nur für einen begriffsstutzigen Wortklauber. Und überhaupt, darum geht es doch gar nicht.« »Worum geht es denn?« Owen grinste. »Sex verkauft sich.«
    Kurz nach Lucys Besuch stehe ich unter der Dusche, und es jagt mir selbst einen jähen Schreck ein, als ich einen gellenden, verängstigten Schrei ausstoße, der wütend aus mir hervorbricht und in meiner Kehle rumort, bevor er laut von den Kacheln und der mattierten Glastür der Duschkabine widerhallt. Dieser einzige kurze Aufschrei öffnet die Schleusen, und die nächsten fünf Minuten stehe ich unter dem heißen Wasserstrahl, während mein Körper krampfartig von heftigen Schluchzern gerüttelt wird, die tief aus meiner Bauchgegend kommen und verzweifelt durch die Luftröhre nach oben drängen, um an die frische Luft zu entweichen.
    Als es vorbei ist, steige ich aus der Dusche, benommen, blockiert, und wickele mir ein Handtuch um die Hüfte und ein zweites um Kopf und Schultern, womit ich mir immer wie ein Schwergewichtskämpfer vorkomme. Das Taschentuch zerfällt in meinen nassen Händen, als ich mir die Nase putze, und kleine aufgeweichte Tempoklümpchen mischen sich in meinen Rotz wie Guppys. Ich betrachte mich im Spiegel, nicht ganz sicher, wonach ich eigentlich suche. Erst als der Dampf das Glas beschlagen hat und mein Gesicht verdeckt, ziehe ich mich an und wähle Owens Pager an.
    »Ich benehme mich seltsam«, sage ich zu ihm, als er sich kurz darauf meldet.
    Ich kann fast hören, wie er sich dazu zwingt, die Zähne zusammenzubeißen, nur um nicht zu sagen, was ihm auf der Zunge liegt. »Und in welcher Hinsicht meinst du, dass du dich seltsam benimmst?«
    Ich erzähle ihm von meinem heftigen Weinkrampf unter der Dusche und dann von meinen Tränen im Treppenhaus des Krankenhauses und am Abend zuvor im Wohnzimmer meines Vaters. »Weinen«, sagt er, »ist wohl kaum ein seltsames Benehmen.«
    »Für mich schon.«
    »Hör zu, Joe, du hast ganz offensichtlich eine beträchtliche Menge ungelöster Konflikte- hinsichtlich deiner Familie und deiner Vergangenheit.«
    »Stimmt auffallend«, sage ich, bemüht, die Ungeduld aus meiner Stimme zu halten. »Aber es hat mich noch nie zum Weinen gebracht. Wie würdest du dieses Verhalten erklären?«
    »Du meinst, wenn ich dein Therapeut wäre.«
    »Genau.«
    »Was ich nicht bin.«
    »Egal.«
    »Teufel, ich weiß es nicht«, sagt Owen. »Eine Therapie ist ein komplexer Ablauf von Exploration und Analyse. Es ist eine Perversion des Prozesses, vorschnelle Diagnosen zu stellen.«
    »Aber du hast bereits eine.«
    »Natürlich habe ich eine. Ich werfe nur erst einmal meinen üblichen Haftungsausschluss hin.«
    »Vorschriftsmäßig zur Kenntnis genommen. Und jetzt erkläre es mir bitte in aller Deutlichkeit. Meinst du, ich habe einen Nervenzusammenbruch?«
    Owen seufzt. »Du hast keinen Zusammenbruch. Ich glaube nicht, dass du das in dir hast.« Nur Owen kann es so klingen lassen, als sei es tatsächlich eine Charakterschwäche. »Ganz spontan würde ich sagen, dass du dich über viele Jahre hinweg einsam nach der Liebe deiner Familie gesehnt hast. Das ist vermutlich ein entscheidender Faktor beim völligen Scheitern all deiner anderen Beziehungen. Du bist nie zufrieden zu stellen, da keine Frau das riesige Vakuum ausfüllen kann, das deine Familie hinterlassen hat. Und jetzt, in deiner Heimatstadt, bist du auf einmal mit dieser Familie konfrontiert, nach deren Liebe du dich so verzweifelt sehnst, und du kannst deine tiefen Gefühle von Schuld, Einsamkeit und Verlust nicht länger unterdrücken.«
    Für einen langen Augenblick ist in der Telefonleitung nichts als das Atmen von uns beiden zu hören, und ich denke über das nach, was er soeben gesagt hat. »Das klingt, als hättest du so

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