Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
Vom Netzwerk:
über und hatte plötzlich einen großen Messingschlüssel in der Hand, mit dem sie die Tür zu einem Treppenhaus aufschloß, durch das man die über ihnen gelegene Turmsuite erreichte. Im Halbdunkel stiegen sie bis zum Eingang der Suite und dann noch eine weitere Treppe hinauf.
    Ganz oben stieß sie mit großer Geste die Tür auf. Sie traten auf eine winzige Aussichtsplattform hinaus. Vor ihnen lag das ganze Panorama der Bucht, von San Mateo bis Marin – zehntausende Lichterkonfigurationen, die unter einem violetten Abendhimmel glitzerten.
    Sie stellte sich an die Brüstung. »Das müßte hinhaun.«
    Er stellte sich neben sie. »Was denn?«
    »Sag jetzt nichts. Sonst verdirbst du mir das Ritual.« Sie knöpfte die Hemdtasche des Karohemds auf und nahm ein pinkfarbenes Plastiketui heraus, das ungefähr die Größe einer Puderdose hatte. Sie hielt es wie einen geweihten Talisman hoch. »Lebt wohl, kleine Ortho-Novums. Mama will euch nicht mehr.«
    Schlagartig wurde ihm bewußt, was sie tat. »Mensch, du dusseliges …«
    »Schsch …« Sie holte aus und warf. Die Pillen segelten in die Nacht wie ein winziges Raumschiff auf einem Flug zu den Sternen. Sie formte die Hände zu einem Trichter vor dem Mund und rief: »Hast du das gesehen, Gott? Alles klar?«
    Er warf den Kopf zurück und schrie seine Freude heraus.
    »Gut, nicht?« Sie lächelte in den Wind, und er fand sie schöner denn je.
    »Ich hab dich nicht verdient«, sagte er.
    »Von wegen.« Sie nahm seine Hand und zog ihn zum Treppenhaus. »Komm, Großer. Laß uns Babies machen.«

Auftritt Miss Treves
    Michael hatte Jet-lag stets für eine Marotte der Reichen gehalten, doch seine ersten Tage in London veranlaßten ihn, seine Ansicht für immer zu revidieren. Er erwachte ausnahmslos zur magischen dritten Stunde – mal mitten in der Nacht, mal am Nachmittag. Und das in einem Haus, wo das Telefon nie läutete und das Trommeln nie aufhörte.
    Das Trommeln kam zwar aus dem Nachbarhaus, aber die elementaren Rhythmen waren im Morgengrauen nicht zu überhören, wenn er unweigerlich in seichtem, lauwarmem Wasser lag und zusah, wie das kalte graue Licht eines weiteren Regentags über den künstlichen blauen Himmel der Badezimmerdecke kroch.
    Um sich zu beschäftigen, klapperte er seinen Waschsalon, sein Postamt und das nächste Lebensmittelgeschäft ab. Dann unternahm er Ausflüge in andere Teile der Stadt, um Orte wiederzusehen, die ihm von früher vertraut waren: einen lärmigen Pub in Wapping, der sich Prospect of Whitby nannte (inzwischen touristenverseuchter, als er ihn in Erinnerung hatte); die Carnaby Street (einst mod und schmuddelig, jetzt punk und schmuddelig); den reizenden alten Friedhof in Highgate, wo Karl Marx begraben lag (noch immer reizend, noch immer begraben).
    Als es am dritten Nachmittag aufklarte, schlenderte er durch Kensington und Chelsea zum Fluß hinunter und folgte dem Embankment bis zu Cleopatra’s Needle. Mit sechzehn hatte ihn der ägyptische Obelisk seltsam angezogen, weil er von zwei Löwen flankiert wurde, die ihn – aus einem bestimmten Winkel betrachtet – an erigierte Schwänze erinnerten. Na ja, mit sechzehn hatte er fast in allem etwas Phallisches gesehen.
    Einigermaßen enttäuscht von seinem Wiedersehen mit den Löwen, ging er weiter durch die Straßen und orientierte sich in Richtung Trafalgar Square. Aus Gründen der Sparsamkeit – wenigstens redete er sich das ein – aß er mittags in einem McDonald’s in der Nähe der U-Bahn-Station Charing Cross und kam sich dabei grauenhaft amerikanisch vor, bis der Kunde vor ihm in breitestem Cockney einen Erdbeershake zum Mitnehmen orderte.
    Am Piccadilly Circus kaufte er sich die Gay News, die er, eingekeilt von deutschen Rucksacktouristen, zu Füßen der Eros-Statue durchblätterte. Nach den Kleinanzeigen zu schließen waren schwule Engländer permanent auf der Suche nach »uncles« (Bärentypen) mit »stashes« (Schnäuzern), die »noncamp« (macho) waren und um Kneipen einen Bogen machten (»non-scene«). Überraschend viele Anzeigenkunden wiesen darauf hin, daß sie eine Eigentumswohnung und einen Wagen hatten. Von der Frauenfront wurde berichtet, daß eine Lesbengruppe im Norden der Stadt einen Samstagsjog zum Grabmal von Radclyffe Hall organisierte und daß man allgemein der Sappho Disco Night im Goat in Boots in der Drummond Street entgegenfieberte.
    Wieder daheim in der Colville Crescent, versuchte er nach Kräften, den Gestank aus dem Badezimmer zu vertreiben, indem er den

Weitere Kostenlose Bücher