Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
Wind.
Es gab so vieles, was man einem Kind in dieser Stadt zeigen konnte, und Das Kind würde ihn so viele alltäglich gewordene Sehenswürdigkeiten neu entdecken lassen. Die Windmühle im Golden Gate Park. Chinatown im Nebel. Die Brandung, die bei Fort Point schäumend über die Ufermauer spritzte. Im Geiste sah er bereits, wie sie gemeinsam über einen Strand tollten, er und dieses kleine Stück von ihm, dieses aufgeweckte, liebenswerte Wesen, das ihn … ja, wie würde es ihn wohl nennen?
Daddy?
Dad?
Papa?
Papa war eigentlich nicht schlecht. Es klang freundlich, aber auch nach alten Werten – nach liebevoller Strenge. Vielleicht zu streng? Er wollte nicht autoritär erscheinen. Das Kind war schließlich auch eine Persönlichkeit. Es durfte ihn niemals fürchten. Schlagen kam überhaupt nicht in Frage.
Er ging wieder nach unten in die Wohnung, und als er seinen Teller in den Ausguß stellte, faßte er den Entschluß, die Spüle zu schrubben. Draußen hörte er Mrs. Madrigal bei der Gartenarbeit. Sie summte eine Kurzfassung von »I Concentrate on You«.
Er hätte ihr zu gern von Dem Kind erzählt, aber er unterdrückte den Drang, denn er fand – ohne genau zu wissen, warum –, daß sie es von Mary Ann erfahren sollte. Außerdem würde es viel mehr Spaß machen, wenn sie warteten, bis sie wußten, daß Mary Ann schwanger war.
Um Simon zu zeigen, daß er nichts gegen ihn hatte, ging er hinunter und lud den Lieutenant zum Joggen ein.
Keuchend und schnaufend liefen sie an verlassenen Docks vorbei zur Bay Bridge, und ihn beeindruckte Simons Ausdauer. Er sagte es ihm.
»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben«, war die höfliche Antwort.
»Nicht nur beim Laufen«, fuhr Brian fort. »Du scheinst dich auch auf anderen Gebieten ganz gut zu schlagen.«
»Ach ja?«
Brian warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu und grinste. »Ich hab sie gesehen, als sie heute früh gegangen ist.«
»Ah.«
»Ganz recht … ah. Wo hast du sie aufgegabelt?«
»Ach … in einer kleinen boîte, heißt Balboa Café. Kennst du den Laden?«
»Von früher, ja. Ich war schon ’ne Weile nicht mehr da. War sie gut?«
»Mmm. Bis zu einem gewissen Punkt.«
Brian lachte.
»Das sollte kein Kalauer sein.«
»Mhm.«
»Sie war ein bißchen … öh … wie soll ich sagen … zu enthusiastisch.«
»Schon kapiert«, sagte Brian. »Sie hat dich in die Brustwarzen gebissen.«
Der Lieutenant war sichtlich entgeistert. »Also … ja, tatsächlich … das hat sie.«
»Auf so was steht sie«, sagte Brian.
»Du kennst sie?«
»Von früher. Vor meiner Ehe. Jennifer Rabinowitz, stimmt’s?«
»Ja.«
»Allerhand, die Lady.«
»Sie ist schon viel herumgekommen, was?«
Brian lachte glucksend. »Sie ist der gefräßigste Hai im Bermuda-Dreieck.«
»Wie bitte?«
»So nennt man die Gegend ums Balboa Café«, klärte Brian ihn auf.
»Verstehe.«
Der Lieutenant schien ein wenig geknickt, und Brian versuchte, ihn wieder aufzurichten. »Ich meine … nicht, daß du denkst, sie ist hier die Stadthure. Sie steigt nicht mit jedem ins Bett.«
»Wie beruhigend«, sagte Simon.
Sie beendeten ihren Lauf an der Brücke, gingen vom Embarcadero stadteinwärts und setzten sich auf die Einfassung vom Villaincourt-Springbrunnen. Ein kleiner Vietnamese mit einem Einkaufsnetz machte sich an sie heran. Brian scheuchte ihn mit einer Handbewegung weg.
»Was war das?« fragte Simon.
»Er wollte uns Knoblauch verkaufen.«
»Warum Knoblauch?«
»Keine Ahnung. Sie besorgen ihn sich in Gilroy und verkaufen ihn hier auf der Straße. Es gibt Dutzende von diesen kleinen wendigen Kerlen. Sie nerven die weißen Männer, die das Land ihrer Eltern besetzt haben. Ausgleichende Gerechtigkeit, hm?«
»Kann man wohl sagen.«
»Du bist ein prima Joggingpartner«, sagte Brian.
»Vielen Dank, Sir. Gleichfalls.«
Brian packte das Knie des Lieutenants und rüttelte es herzhaft. Er mochte diesen Burschen sehr. Und nicht nur, weil sie dank Jennifer Rabinowitz etwas gemeinsam hatten. »Du sitzt neben einem, der sein Glück nicht für sich behalten kann«, sagte er.
»Wie das?«
»Tja … Mary Ann und ich haben beschlossen, Eltern zu werden. Ich meine, sie ist noch nicht schwanger, aber wir arbeiten daran.«
»Das ist wunderbar«, sagte Simon.
»Ja … verdammt noch mal, das ist es.«
Eine Weile saßen sie schweigend da und ließen sich vom Plätschern des Brunnens einlullen.
»Aber sag ihr nicht, daß ich’s dir erzählt habe«, sagte Brian.
»Natürlich
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