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Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
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siffigen Bodenbelag mit einem Raum-Deodorant-Konzentrat bearbeitete, das er bei Boots the Chemist gefunden hatte. (In mancher Hinsicht waren englische Drogerien höchst verwirrende Einrichtungen. Die Packungen und Flaschen sahen zwar nicht grundlegend anders aus als die in den Staaten, aber die Produkte hatten andere Namen, damit irgendwelchen idiotischen Schutzbestimmungen genüge getan war. War Anadin dasselbe wie Anacin? Spielte es überhaupt eine Rolle?) Heftig schüttelte er die kleine bernsteingelbe Flasche, bis ein paar Tropfen herauskamen. Doch der scharfe Geruch der Flüssigkeit verband sich augenblicklich mit dem Uringestank, und das Mittel bewirkte rein gar nichts. Er warf die Flasche in den Müll, stürmte aus dem Bad und tastete in seinem Koffer nach dem letzten der Joints, die ihm Mrs. Madrigal gedreht hatte.
    Er wollte ihn gerade anzünden, als ihn ein widerlich lautes Geräusch zusammenzucken ließ. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm klar wurde, daß er soeben zum erstenmal seine Türklingel vernommen hatte. Er legte den Joint ins Versteck zurück, ging durch den Hausflur und öffnete die Tür.
    Die Frau, die vor ihm stand, war etwa sechzig. Ihre grauen Haare legten sich in hübschen Imogene-Coca-Löckchen um ihr Gesicht. Sie trug ein braunes Tweedkostüm und braune Schuhe mit flachen Absätzen. Aber das war nicht das Offensichtliche, das Simon erwähnt hatte. Sondern, daß sie nur bis an die Türklinke reichte.
    »Oh«, sagte sie mit piepsiger, erschrockener Stimme. »Ich habe Licht gesehen. Da dachte ich mir, daß ich lieber mal klingel.«
    »Sie müssen Miss Treves sein«, sagte er, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen. »Ich bin ein Freund von Simon. Michael Tolliver.«
    »Oh … Amerikaner.«
    Er lachte nervös. »Ja. Wir haben die Wohnungen getauscht. Simon ist in San Francisco.«
    »Ich weiß Bescheid, ich kenne diesen ungezogenen Bengel«, knurrte sie.
    »Es geht ihm gut«, sagte er. »Ich soll Ihnen herzliche Grüße bestellen und Ihnen ausrichten, daß er gleich nach Ostern wiederkommt.«
    Diese Nachricht wurde mit einem weiteren Knurren quittiert.
    »Er hat sich einfach irgendwie … in San Francisco verliebt.«
    »Hat er Ihnen das gesagt?«
    »Na ja … so ungefähr. Schauen Sie, ich hab mich hier noch nicht ganz eingerichtet, aber … kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Oder einen Tee?«
    Sie überlegte kurz und nickte. »Nichts dagegen.«
    »Gut.«
    Sie ging voran und setzte sich im Wohnzimmer in einen niedrigen, mit Chintz bezogenen Sessel. Ihre Schuhsohlen berührten fast den Boden. Die eigenartigen Proportionen des Sessels ließen vermuten, daß er extra für sie hier stand.
    Miss Treves wischte ein Stäubchen von der Armlehne und legte dann prüde und geziert die Hände in den Schoß. »Simon hat mir nicht gesagt, daß Sie kommen. Sonst hätte ich hier ein bißchen Ordnung gemacht.«
    »Das macht nichts«, sagte er. »Ist doch gut so.«
    Sie schaute sich angewidert um. »Nein, kein bißchen. Es ist absolut verlottert.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Und er will ein feiner Herr sein.«
    Ihre Entrüstung gab ihm sofort ein gutes Gefühl. Er hatte schon befürchtet, er sei zu pingelig, zu amerikanisch in seinen Ansprüchen. Das Urteil dieser Expertin bestätigte ihm, daß er richtig vermutet hatte: Simon war ein schlampiger Mensch.
    Er erinnerte sich, daß er ihr einen Tee angeboten hatte. »Oh … entschuldigen Sie mich. Ich setze unser Teewasser auf.« Als er einen schnellen Abgang machen wollte, stieß er unrühmlich mit einer schirmlosen Stehlampe zusammen. Er hielt den schwankenden Lampenständer fest und hörte, wie Miss Treves kicherte.
    »Na, na, mein Bester. Sie werden sich daran gewöhnen.«
    Sie meinte offenbar ihre Körpergröße. Er drehte sich um und lächelte sie an, um zu zeigen, daß er als Kalifornier mit den unterschiedlichsten Menschen problemlos zurechtkam. »Was nehmen Sie in Ihren Tee?« fragte er.
    »Milch, bitte … und ein klein wenig Zucker.«
    »Ich fürchte, ich habe keinen Zucker da.«
    »Doch, haben Sie. Auf dem Wandregal rechts vom Herd. Ich hab dort immer welchen für mich stehen.«
    In der Küche ließ er warmes Wasser in den Teekessel laufen, holte eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank und ortete Miss Treves’ privaten Zuckervorrat. Es war Kandiszucker wie bei seinem ersten Sexpartner, dem Non-scene/non-camp- Maurer vom Hampstead Heath.
    Er ging zurück ins Wohnzimmer, gab Miss Treves ihren Tee und setzte sich auf dem Sofa an das Ende,

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