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Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
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getrimmten Hamburgerrestaurants – einem »Café«, das mit Neonkakteen und alten Coca-Cola-Reklameschildern dekoriert war. Früher, so erinnerte er sich, gab es Hamburger in London nur in Wimpy-Bars, und die hatten die Bezeichnung kaum verdient.
    In einem seiner alten Stammlokale am Flask Walk trank er ein paar Gläser Cider und überlegte, was er mit dem Rest des Nachmittags anfangen sollte. Er konnte rüber ins Spaniards Inn gehen und dort noch ein oder zwei Glas trinken. Er konnte das Haus suchen, in dem einmal der Erfinder der Weihnachtskarten gewohnt hatte. Er konnte einen Spaziergang hinunter zum Vale of Health machen und sich ans Ufer des Teichs setzen, auf dem Shelley einst seine Papierschiffchen hatte segeln lassen.
    Oder er konnte seinen Maurer suchen.
    Noch ein Glas Cider, und sein Entschluß stand fest. Shelley und der Erfinder der Weihnachtskarten konnten es mit der Erinnerung an einen haarlosen Hodensack nicht aufnehmen. Im Nu war er aus dem Pub und schlenderte auf dem blaßgrünen Hügelkamm über der Stadt in Richtung Jack Straw’s Castle und Spaniards Road.
    Die Heidelandschaft war noch genauso, wie er sie in Erinnerung hatte – sanft gewellte Wiesen, eingefaßt von dunkelgrünem Stadtwald. Es schien mehr Abfall herumzuliegen (was für ganz London galt), doch die achtzig Hektar Park hatten noch immer etwas Geheimnisvolles. Bei seinem letzten Besuch hatte ihn das Rascheln des Winds im dichten Laub sofort an eine gespenstische Szene aus Blow-Up erinnert – ein Film, der für ihn so sehr mit London verbunden war wie Vertigo mit San Francisco.
    Er betrat den Park von der Spaniards Road und folgte einem breiten Weg, der zwischen den Bäumen hindurchführte. Als er die Hampstead Ponds erreichte, blieb er eine Weile stehen und sah drei Kindern zu, die am Ufer herumtollten. Ihre Mutter, eine sommersprossige Rothaarige in einem grünen Pullover und Freizeithose, bedachte ihn mit einem matten Lächeln, als wollte sie ihm danken, daß er ihrem Nachwuchs Aufmerksamkeit schenkte. Er erwiderte das Lächeln und pitschte einen flachen Stein übers Wasser, um den Kindern ein paar Freudenschreie zu entlocken.
    Er erinnerte sich, daß von hier ein Weg zum südlichen Rand des Parks führte – und zu der Straße, wo der Maurer gewohnt hatte. Die Straße, wo er wohnte. Die auf schwul umgemodelte Liedzeile brachte ihn zum Lachen, und er summte den Song aus My Fair Lady vor sich hin.
    Die Straße hieß South End Road. Er erinnerte sich daran, weil sie sich mit Keats Grove kreuzte, wo einst der Dichter gewohnt hatte – und über Keats hatten sie sich (neben Paul McCartney, Motorrädern und dem Weltfrieden) damals nach dem Sex unterhalten.
    Er fand das Haus fast auf Anhieb, da er den mit Nachtigallen bemalten edwardianischen Glaseinsatz über der Haustür wiedererkannte.
    Keine Zeit zum Überlegen, sagte er sich. Er schlug alle Vorsicht in den Wind und drückte auf die Klingel der Parterrewohnung. Ein alter Mann mit einer Strickjacke kam an die Tür.
    »Das ist ein bißchen ungewöhnlich«, begann Michael, »aber vor langer Zeit hat hier mal ein Freund von mir gewohnt, und ich wollte gern mal sehen, ob er noch hier ist.«
    Der alte Mann musterte ihn einen Augenblick und sagte dann: »Wie hieß er denn?«
    »Tja … das ist das Ungewöhnliche … ich weiß es nicht mehr. Er war Maurer … ein großer, kräftiger Bursche. Er muß jetzt um die Fünfzig sein.« Wenn ich mir’s recht überlege … ich glaube, er hatte einen haarlosen Sack.
    Der jetzige Bewohner schüttelte nachdenklich den Kopf. »Wie lange ist das her?«
    »Sechzehn Jahre. Neunzehnhundertsiebenundsechzig.«
    Ein heiseres Lachen. »Da muß er schon lange weg sein. Meine Frau und ich wohnen hier schon länger als die andern Mieter, und das sind jetzt grade acht Jahre. Sechzehn Jahre! Kein Wunder, daß Sie sich nicht mehr erinnern, wie er hieß!«
    Michael dankte dem Mann und ging. Er fand sich damit ab, daß die Suche aussichtslos war. Eigentlich machte es auch nichts. Was hätte er denn sagen sollen, wenn er seinen Retter gefunden hätte? »Sie kennen mich nicht … aber danke, daß Sie damals als erster zur Stelle waren«?
    Die Sonne schien inzwischen recht warm herunter, und flauschige Wolken segelten über den Himmel. Er ging wieder durch den Park und auf den kleinen baumbestandenen Hügel zu, den die Einheimischen »Boadicea’s Tomb« nannten. Niemand glaubte im Ernst, daß die Königin aus grauer Vorzeit tatsächlich unter diesem Hügel begraben war,

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