Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
Vom Netzwerk:
hörte sich allmählich an wie eine schwule Variante von »Who’s on First?«, und die Frau gegenüber war alles andere als amüsiert. »Ich glaube, wir sollten das Thema fallenlassen, Wilfred.«
    »Von mir aus gern«, meinte der Junge mit einem Schulterzucken.
    An der Endstation kaufte Wilfred eine Tafel Cadbury-Schokolade, brach einen Riegel ab und gab ihn Michael. »Wir haben noch ein Stück zu gehn. Hoffen wir mal, daß der alte Dingo noch da ist.«
    »Mhm«, sagte Michael und lächelte in sich hinein. Er wollte erst gar nicht fragen, was damit gemeint war. Wilfreds Masche hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit der von Ned.
    Der Junge steuerte die nächste Metzgerei an, ging an den Ladentisch und verlangte ein halbes Pfund Rinderleber. Er gab das Fleisch, das er in einer kleinen Pappschachtel bekam, an Michael weiter. »Nimm das mal bitte. Das brauchen wir später.«
    Michael sah ihn zweifelnd an. »Doch nicht fürs Frühstück?«
    »Nicht für unseres«, sagte Wilfred grinsend und verließ mit ihm den Laden.
    Sie gingen fünf oder sechs Blocks weit nach Wimbledon hinein. Tudor-Nachbauten wechselten sich ab mit öden Back-Steinmietskasernen, und dazwischen lagen sattgrüne Rasenflächen. Michael fühlte sich irgendwie an Kansas City oder die Vororte von Städten im Mittelwesten in den zwanziger Jahren erinnert.
    Vor einem Trümmergrundstück blieb Wilfred stehen. Das Gebäude, das hier einmal gestanden hatte, war offenbar bis auf die Grundmauern abgebrannt. »Nächsten Monat ziehen sie hier was Neues hoch. Dingo bleibt nicht mehr viel Zeit.« Er stieg gelenkig über Backsteine und Zementbrocken und arbeitete sich nach hinten durch, wo der Schutt am höchsten lag. Dann schnalzte er mit den Fingern in Michaels Richtung.
    »Was ist?« fragte Michael.
    »Die Leber, Mann.«
    »Oh.« Er gab Wilfred die Schachtel, und der ließ den Inhalt auf einen flachen Stein plumpsen, der anscheinend schon häufiger diesem Zweck gedient hatte. »Mir wird es langsam unheimlich«, flüsterte er.
    »Pssst.« Wilfred legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Wart’s ab.«
    Regungslos wie zwei Statuen standen sie zwischen den Trümmern.
    »Hierher, Dingo«, stimmte Wilfred einen Singsang an. »Komm schon, Kleiner.«
    Irgendwo unter dem Schutt hörte Michael eine Bewegung. Dann erschien ein glitzerndes Augenpaar in einer Öffnung neben dem flachen Stein. Nach vorsichtigem Schnuppern kam das Wesen ans Tageslicht.
    »Meine Güte«, murmelte Michael. »Ein Fuchs, was?«
    »Gut geraten.«
    »Was macht der hier?«
    Wilfred zog die Schultern hoch. »Sie sind überall in London.«
    »Du meinst, am Stadtrand?«
    »Wo sie halt irgendwie über die Runden kommen. Stimmt’s, Dingo?« In fünf Metern Entfernung schaute der Fuchs kurz von seiner Mahlzeit hoch, ehe er geräuschvoll weiterfutterte. »Nächsten Monat räumen sie hier alles ab. Dann ist Dingo echt in Schwierigkeiten.«
    »Warum nennst du ihn Dingo?«
    Wilfred drehte sich zu ihm um. »So heißen in Australien die Wildhunde.«
    »Ach so.«
    »Ich hab ihn entdeckt, als ich da unten in der Frittenbude gearbeitet hab. In der Mittagspause hab ich ihm mal was von meinen Fish and Chips hingeworfen, und er war so dankbar dafür, daß ich am nächsten Tag wiedergekommen bin. Aber dann haben sie mich gefeuert, und seitdem komm ich mit der U-Bahn her, sooft ich kann. Ist schon ’ne Weile her seit dem letzten Mal. Hab ich dir gefehlt, Dingo? Eh?«
    Schweigend sahen sie dem Fuchs beim Fressen zu. Dann sagte Michael: »Wir haben Kojoten in Kalifornien. Ich meine … sie kommen manchmal in die Städte.«
    »Ja?«
    Michael nickte. »In L. A. durchstöbern sie die Mülltonnen. Sie sind schon mitten auf dem Sunset Boulevard gesichtet worden. Sie gehören nicht in die Wildnis, und in die Stadt gehören sie auch nicht.«
    »Sie sitzen in der Falle. In dem Schlamassel, den wir angerichtet haben. Sie wissen es auch. Dingo weiß es. Er kann sich bloß noch in dem Loch da verkriechen und auf das Ende warten.«
    »Kannst du ihn nicht von hier … wegbringen?«
    »Wohin denn, Mann? Einen Fuchs mag doch niemand.« Wilfred drehte sich um und hatte Tränen in den Augen.
    »Ich hab ihm diesmal was besonders Gutes mitgebracht. Weil ich nämlich nicht mehr herkomme. Meine Nerven halten das nicht aus.«
    Michael war selbst schon den Tränen nahe. »Er scheint dir sehr dankbar zu sein.«
    »Ja. Sieht so aus, nicht?« sagte Wilfred mit einem matten Lächeln und wischte sich über die Augen.
    »Und du?« fragte Michael.

Weitere Kostenlose Bücher