Stalins Geist
kein Pathologe.«
»Keine Angst. Er wird Sie nicht beißen.« Arkadi hockte sich an den Rand der Grube.
»Na ja, ein ziemlich junger, gut trainierter Mann, etwas unter zwei Meter groß. Gut ernährt. Der Ringfinger der linken Hand fehlt; also war er vermutlich verheiratet und trug einen goldenen Ring. Und was die Beine angeht, die hat man ihm wegen seiner Stiefel abgeschnitten, nehme ich an.«
»Man braucht doch die Beine nicht abzuschneiden, um die Stiefel zu klauen«, sagte Rudi.
»Doch, wenn sie hart gefroren sind. Dann muss man die Stiefel am Lagerfeuer anwärmen, um sie herunterzubekommen. Und wenn man keine Leiche durch das Lager schleppen will, muss man die Beine am Knie absägen und mitnehmen. Vor allem, wenn es maßgefertigte Lederstiefel sind. Ich würde also sagen, er war ein junger, frisch verheirateter deutscher Offizier, der glaubte, er würde Weihnachten wieder zu Hause sein. Aber das ist nur eine Vermutung.«
»Das ist eine ganze Schaufel voll Stuss«, sagte Rudi. »Aus Moskau noch dazu.«
» Wahrscheinlich«, pflichtete Arkadi ihm bei. »Drehen Sie ihn um. Mischa hat etwas entdeckt.«
Rudi packte die Rippen und zog. Die Erde gab nur widerstrebend nach, aber das Skelett rollte von einem metallenen Löffel herunter, der an einer Kette am Nackenwirbel hing. Es war ein schwarzer Löffel mit einem eingravierten Hakenkreuz im Griff. Rudi rieb den Löffel mit einem Wildledertuch ab. Silber schimmerte hervor. Er brach die Halswirbel mit den Händen auseinander, löste die Kette mit dem Löffel heraus und wickelte beides in das Ledertuch. Dann blickte er zu Arkadi auf und sagte: »Ist trotzdem Stuss.«
Arkadi machte eine Pause. Er verließ die Grube und ging auf das Feld hinaus, um Major Agronski auf dem Handy anzurufen, nur um eine nahe liegende Entdeckung zu machen:
Das Land rings um Twer lag am Rand der Netzabdeckung, und er musste gegen Wellen von statischem Rauschen ankämpfen. Ein paar Mal brüllte er seine Nummer ins Telefon und gab dann auf. Der Major war Vorsitzender des Empfehlungsausschusses bei der Armee gewesen, und Arkadi wollte ihm eine Frage stellen: Warum hatten Hauptmann Isakow und seine Schwarzen Barette für ihre Heldentat an der Sunscha-Brücke keinen einzigen Orden und keine Beförderung erhalten?
Der Große Rudi kam heran, die Mütze in den Händen. »Ich möchte mich für Rudi entschuldigen. Im Grunde seines Herzens ist er ein guter Junge.«
»Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen. Es war absoluter Stuss, ganz sicher. Professioneller Stuss von der besten Sorte.«
»Er ist von ein paar Motorradgroßhändlern in Moskau übers Ohr gehauen worden.«
»Da haben Sie’s.«
»Er und die Ausgräber leisten gute Arbeit. Es ist immer noch wichtig, wer wer ist.«
Arkadi verstand, was er meinte. Auf Stalins Befehl wurde jeder Soldat, der vermisst wurde, als Überläufer betrachtet. Es kam nicht darauf an, ob er gerade verblutete oder gegen einen deutschen Panzer anstürmte, als er das letzte Mal gesehen worden war: Er war des Verrats schuldig, und seine Familie wurde wegen Umgangs mit einem Verräter bestraft. Witwen bekamen keine Lebensmittelrationen mehr, sie verloren ihre Arbeit und manchmal auch ihre Kinder. Die Familie lebte über Generationen hinweg unter einer dunklen Wolke. Eine Rehabilitation, selbst wenn sie sechzig Jahre zu spät kam, war besser als nichts. Im Laufe der Jahre, erzählte der Große Rudi, hatten die Roten Ausgräber über tausend russische Gefallene aus den Feldern rund um Twer zu ihren Familien nach Hause geschickt.
»Woher wussten Sie das mit den gefrorenen Stiefeln?«, fragte er Arkadi.
»Ich weiß es nicht. Aber es schien eine Möglichkeit zu sein.«
»Das war nicht der einzige Fall.« Der Große Rudi legte das Gesicht in Falten und musterte Arkadi durchtrieben. »Rudi sagt, Sie waren einundvierzig nicht hier.«
»Das stimmt.«
»Dann muss es Ihr Vater gewesen sein. Er hat Ihnen das mit den Stiefeln erzählt.«
»Er war nie hier.«
»Er hat seinen Namen nie genannt, aber ich habe mich sofort an ihn erinnert, als ich Sie gesehen habe. Er hat einen starken Eindruck auf mich gemacht.«
Arkadi wollte keine Diskussion mit einem alten Veteranen anfangen. Manche Leute verehrten den General. Stalin lobte ihn für seine Tatkraft und seine Bereitschaft, Ströme von Blut zu vergießen.
»Sie wollten über etwas reden«, sagte er. Das war sein Teil der Abmachung.
»Die Gegenoffensive war so verwirrend. Gerade noch hatten wir auf den Knien gelegen,
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