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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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kehrte müde ins Hotel zurück. Er ging noch einmal ins Restaurant, um die Kellner zu wecken und sie zu bezahlen - großzügig, nach ihren Gesichtern zu urteilen -, und dann nahm er den Aufzug. Das Zimmer im ersten Stock war immer noch erleuchtet. Es wurde für einen Augenblick noch heller, als die Tür sich öffnete und wieder schloss, und Arkadi ahnte, dass Gestalten sich bewegten.
    Mehr wollte er nicht wissen.
     
    Zwanzig
    Eine triste Welt löste sich aus der Dunkelheit: ein verlassenes Feld mit Winterweizen, an drei Seiten begrenzt von Dornengestrüpp, am unteren Ende von einem Feldweg, der zu nebelverschleierten Weiden führte.
    Die Rudenkos ließen ihren Lastwagen an einem zerbrochenen Tor stehen. Arkadi war ihnen auf der Ural gefolgt, und zu dritt marschierten sie mit Taschenlampen und einer Schubkarre voller Hanfsäcke und Werkzeug zu einem lockeren Erdhaufen. Die Morgenluft schien eine verjüngende Wirkung auf den Großen Rudi zu haben: Er mochte verrückt sein, dachte Arkadi, aber er war nicht mehr der verwirrte Großvater vom vergangenen Abend. Der alte Mann richtete den Strahl seiner Lampe auf den Erdhaufen, und Rudi wählte eine Schaufel aus und fing an, die lockere Erde zur Seite zu schaufeln. Etwas so Ausgefallenes wie einen Kilometerzähler hatte die Ural nicht, aber Arkadi schätzte, dass sie sich ungefähr vierzehn Kilometer südlich von Twer befanden.
    Als die Sonne über den Horizont stieg, bekam das Feld Konturen und Dimensionen: Eine Fläche aus plattem Gras und nasser Erde, ungefähr so groß wie zwei Fußballplätze, eine Erinnerung daran, dass der Winter mit starken Schneefällen angefangen hatte. Die Schatten der Männer sahen aus, als stünden sie auf Stelzen, und eine Gruppe von Kiefern mitten auf dem Feld warf einen wuchtigen Schatten herüber. Die Bäume mussten ein Hindernis für die landwirtschaftlichen Maschinen gewesen sein, und Arkadi fragte sich, warum man sie nicht gleich als Sprösslinge aus der Erde gerissen hatte.
    Die Bekleidungsvorschrift für diesen Tag verlangte militärische Tarnanzüge, und Arkadi hatte sich einen von Rudi geborgt. »Renko, Sie sehen aus wie ein Kriegsgefangener«, sagte Rudi.
    »Nein, wie ein General«, beharrte der Große Rudi.
    Die Sonne war vor einer Stunde aufgegangen, und Rudi löste mit einer Hacke die Erde rings um ein Skelett, das auf der Seite lag.
    »Einer von uns oder einer von denen?«, fragte der Große Rudi.
    »Kann ich noch nicht sagen.« Um Arkadis willen fügte Rudi hinzu: »Das Wetter ist fantastisch. Um diese Jahreszeit ist der Boden normalerweise hart gefroren. Das hier ist, als ob man eine Torte schneidet.«
    »Sieh nach den Zähnen.«
    »Alle da. Vollzählig.«
    »Aber glaubst du, er ist vom Dezember einundvierzig?«, fragte der Große Rudi.
    Jedes Schulkind wusste, dass Stalin im Dezember’ 41 sein größtes Wunder vollbracht hatte. Die Rote Armee hatte vier Millionen Mann verloren, Tote und Verwundete. Die Deutschen standen nicht mehr weit vor Moskau. Leningrad wurde belagert, die Bevölkerung verhungerte. Die Stadt Twer, das Zentrum der gesamten Front, war bereits gefallen. Und dann, unglaublicherweise, gingen die Russen zum Gegenangriff über. Stalin hatte insgeheim Hunderte von Panzern und Tausende von Soldaten aus Sibirien in das Hügelgelände außerhalb von Twer verlegt. Diese neue Armee, scheinbar aus dem Nichts geschaffen und mitten in einem Schneesturm in Marsch gesetzt, kam für den deutschen Nachrichtendienst völlig überraschend. Die Rote Armee setzte über die zugefrorene Wolga und trieb die Wehrmacht zweihundert Kilometer weit vor sich her. Twer wurde befreit, und Tausende von Deutschen fielen oder gerieten in Gefangenschaft, und sie hatten keine Ähnlichkeit mehr mit einer Herrenrasse. Die Form der Front veränderte sich. Die Gestalt des Krieges veränderte sich. Der Feind war vor Moskau zum Stehen gekommen und würde die Stadt nie wieder bedrohen.
    Zwei Frauen, gebückt und durch ihre Kopftücher am Sehen gehindert, bewegten sich am anderen Ende des Feldes entlang und lasen verkümmerte Kartoffeln auf, die man hatte verfaulen lassen. Krähen spazierten hinter ihnen her. Als die Frauen Rudi erblickten, bekreuzigten sie sich und verschwanden. Arkadi fragte sich, ob der Große Rudi schon einmal hier gestanden hatte, während Panzer schwarzen Qualm hervorrülpsten und sibirische Infanteristen über den Fluss kamen.
    »Es gibt Rote Ausgräber und Schwarze Ausgräber«, erklärte Rudi. »Die Roten Ausgräber suchen

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