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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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und im nächsten Moment warfen wir Fritz zu Boden. Es war ein Tollhaus.«
    »Das Glück hatte sich gewendet.«
    »Genau. Das trifft den Nagel auf den Kopf.«
    Nicht ganz, dachte Arkadi. Der alte Mann schien sich von einer Last zu befreien, aber was für eine Last das war, wusste Arkadi nicht. Er drehte sich beim Gehen immer wieder um, als müsste er sich orientieren, und schaute abwechselnd zum Himmel und auf den Boden. Geistesabwesend sagte er: »Als Fritz stecken blieb, erfror er. Er trug seine Sommeruniform; auf einen russischen Winter war er nicht vorbereitet. Seine Pferde fielen tot um. Die Motoren in seinen Flugzeugen vereisten.« Der alte Mann blieb stehen. »Hier! Genau hier stand ein Bauernhaus. Wir sind da.«
    »Wo?« Arkadi sah nichts als verfilzten Weizen und ein paar grüne Grashalme.
    »Fünf Tage nach Beginn der Gegenoffensive saßen Ihr Vater und ich genau hier einander gegenüber am Küchentisch. Ich war an der Front verwundet worden, aber sie hatten mich unter Arrest gestellt und zurückgebracht, weil Vorwürfe gegen mich erhoben worden waren. Jemand hatte behauptet, ich sei einen Tag vor dem Gegenangriff zu den Deutschen übergelaufen, als es hier so düster aussah.«
    »Stimmt das?«
    »Das fragte mich Ihr Vater auch.«
    »Und?«
    »Im Krieg wird alles auf den Kopf gestellt. Gerade noch sitzt du fest, deine Kameraden sind gefallen, und du scheißt dir in die Hosen, und im nächsten Moment rennst du hinter Fritz her und beharkst ihn mit der MP, und dann noch einen und noch einen. Dann bist du hinter seinen Linien, und er ist hinter deinen. Es geht drunter und drüber.«
    Immer neue Autos und Lieferwagen rollten vom Feldweg auf den Acker und entließen eine Armee, die keine Waffen, sondern Grillausrüstungen trug. Jungen marschierten mit ernsten Gesichtern wie Novizen bei einem geheimen Ritual auf das Feld, und ihre Tarnanzüge waren frisch bestickt mit dem Emblem aus Stern, Rose und Helm.
    »Gab es keine Zeugen?«
    »Nein. Schließlich sagte Ihr Vater, nach seiner Berechnung bestehe eine Wahrscheinlichkeit von eins zu sieben, dass ich die Wahrheit sagte. Er nahm alle Patronen bis auf die siebte aus seinem Revolver, drehte die Trommel und gab mir die Waffe. Was konnte ich tun? Wie der General gesagt hatte - die Chance war besser als vor einem Erschießungskommando. Ich hielt mir den Revolver an den Kopf und drückte ab. Der Schuss ging daneben, weil der Abzug so stramm eingestellt war und ich den Lauf verriss, und alles, was dabei herauskam, waren ein geplatztes Trommelfell und eine Verbrennung an meiner Schläfe. Ich dachte, Ihr Vater fällt vom Stuhl, so sehr musste er lachen. Wie hat er gelacht. Er gab mir eine Zigarette, und wir rauchten zusammen. Dann hob er den Revolver auf, schob eine neue Patrone in die Trommel und drehte sie, und er sagte, ich solle es noch mal versuchen, aber die Waffe festhalten. Also hielt ich mir den Revolver wieder an den Kopf und drückte ab, entschlossen, zu tun, was er sagte, aber der Schlagbolzen traf auf eine leere Kammer.«
    »Und da?«
    »Der General stand zu seinem Wort. Er ließ mich frei.«
    »Und das wollten Sie mir erzählen?«
    »Ja - wie er mir das Leben gerettet hat. Mit einem geplatzten Trommelfell war ich an der Front nicht mehr einsatzfähig. Wenn Sie ihn das nächste Mal sehen, können Sie ihm sagen, dass ich der Einzige aus meiner Einheit bin, der den Krieg überlebt hat.«
    Der alte Mann irrte sich in so vielen Punkten, dachte Arkadi. Erstens war der General, soweit Arkadi wusste, nie an der Front in Twer gewesen. Zweitens hatte er zwar einen Nagant-Revolver besessen, aber meistens eine Tokarew-Pistole getragen, und da war es nichts mit dem dramatischen Drehen der Trommel. Drittens: Wenn Soldaten exekutiert wurden, hatte man ihnen oft befohlen, sich auszuziehen, damit ihre Uniform ohne Einschusslöcher an den nächsten Mann weitergegeben werden konnte. Das war ein Schnörkel, den sein Vater sich nie hätte entgehen lassen. Aber es gab keinen vernünftigen Grund, den Großen Rudi zu korrigieren. Was sollte es ihm einbringen?
    Es stimmte, der General hatte gelegentlich seinen Spaß an einem russischen Roulette gehabt, vor allem gegen Ende. Die Leute behaupteten, er müsse wahnsinnig gewesen sein. Vater und Sohn waren einander so sehr entfremdet, dass Arkadi immer behauptete, in Wirklichkeit habe der General an einem späten Anfall von geistiger Gesundheit gelitten und sich endlich als das Monstrum gesehen, das er war.
    Ein Gefühl von Organisation

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