Stalins Geist
alles schon gehört. Aber an der Sunscha-Brücke hast du den Leuten einfach in den Rücken geschossen. »
»Da hatte ich es eilig. Bei dir lasse ich mir Zeit.« Urman klopfte Arkadi beruhigend auf den Rücken und verschwand.
Die Zuschauer gingen nicht. Das rhythmische Klatschen hörte nicht auf, und so viele Jungen saßen auf den Schultern ihrer Väter, dass sie eine zweite Schicht der Begeisterung bildeten. Aus den Lautsprechern dröhnte die sowjetische Hymne in der Kriegsfassung, in der es hieß: »Stalin hat uns zum Glauben an das Volk erzogen, er hat es inspiriert zu Arbeit und glorreichen Taten!« Der Applaus verdoppelte sich, als Isakow auf die Bühne zurückkehrte und beiläufig, wie zur persönlichen Erinnerung, sagte: »Beim Graben wird die Geschichte ans Licht kommen!«
Vielleicht, dachte Arkadi. Vielleicht konnte Urman ihn dazu bringen, dass er um Gnade bettelte. Aber Arkadi hatte bei einem Meister gelernt.
»Haut ist empfindlich.«
Arkadi war zwölf Jahre alt. In Afghanistan. Er war von Ameisenbissen übersät ins Lager zurückgekehrt. Jeder Biss glühte und pochte, und sein Gesicht war geschwollen.
Sein Vater saß auf der Pritsche und fuhr fort. »Man hat Experimente gemacht. Man hat die Probanden hypnotisiert und ihnen gesagt, sie hätten sich verbrannt, und da erschienen Blasen auf ihrer Haut. Patienten, die Schmerzen hatten, wurden hypnotisiert, und die Schmerzen verschwanden. Vielleicht nicht ganz, aber doch so, dass es genügte.«
Der General lockerte seine Krawatte und öffnete die beiden obersten Knöpfe seines Hemdes. Er atmete scharf durch die Nase ein und nahm einen Schluck von seinem Scotch.
»Die Haut wird rot, wenn man verlegen ist, und blass, wenn man Angst hat, und sie zieht sich zusammen, wenn man friert. Die Frage ist, warum fährst du außerhalb der Basis mit einem Motorrad herum? Draußen ist es gefährlich, und der Aufenthalt ist verboten, das weißt du.«
»Ich hab keine Schilder gesehen.«
»Muss man Schilder für dich aufstellen? Was hast du mit dem Motorrad gemacht, dass du gestürzt bist?«
»Ich bin nur gefahren.«
»Vielleicht ein bisschen zu schnell? Ein paar Kunststücke gemacht?«
»Kann sein.«
Der General leerte sein Glas und schenkte sich nach. Er zündete sich eine Zigarette an. Bulgarischer Tabak. Für Arkadi konzentrierte sich der Schmerz der Ameisenbisse in der Streichholzflamme.
»Soweit es die Einheimischen betrifft, sind wir hier als Ingenieure zu Gast, und wir bauen im Rahmen eines Freundschafts- und Kooperationsabkommens eine Landebahn. Darum tragen wir Zivilkleidung. Darum kaufen wir ihre Granatäpfel und Trauben: Wir wollen die Freundschaft festigen, damit wir noch willkommener sind. Aber das hier ist immer noch eine sowjetische Militärbasis, und ich bin immer noch der Kommandant. Verstanden? »
»Ja.«
Der Zigarettenrauch war aromatisch und blau wie eine Gewitterwolke.
»Waren Einheimische dabei? Hat jemand den Unfall gesehen?«
»Ja.«
»Wer?«
»Zwei Männer. Es war mein Glück, dass sie da waren.«
»Ganz sicher.« Sein Vater blies das Streichholz aus, als die Flamme seine Fingerspitzen erreichte. »Es muss wehtun.«
»Ja.«
»Du bist dreizehn?«
»Zwölf.«
»Zwanzig Ameisenbisse sind viel für jedes Alter. Hast du geweint?«
»Ja.«
Der General zupfte sich einen Tabakkrümel von der Lippe. »Die Menschen, die hier rund um die Basis leben, sind hart. Diese Leute haben gegen Alexander den Großen gekämpft. Sie sind Krieger, und sie bringen ihren Kindern bei, Krieger zu sein und niemals zu weinen, was immer passieren mag. Verstehst du? Niemals weinen.« Das Gesicht seines Vaters war rot angelaufen. Arkadi glaubte nicht, dass er verlegen war. Adern wölbten sich auf der Stirn und am Hals des Generals. »Ich bin der Kommandant dieser Basis. Der Sohn des Kommandanten fällt nicht vor den Einheimischen vom Motorrad, und wenn er doch fällt und wenn er von hundert Ameisen gebissen wird, weint er nicht.«
Zwei Einheimische hatten faul im Schatten eines Saxaulbaums gelegen, sie hatten Zigaretten geraucht und zugeschaut, wie Arkadi mit seinem Motorrad Ziesel über den Wüstenboden gejagt hatte. Es waren zwei Brüder, jung, mit kurzen, lockigen schwarzen Bärten. Sie trugen Turbane, Pluderhosen, übergroße Hemden und Sonnenbrillen.
»Sie beobachten uns«, sagte der General. »In dem Augenblick, da wir Schwäche zeigen, sind wir im Belagerungszustand. Darum umgeben wir das Lager mit Minen und halten die Eingeborenen davon ab, sich zu
Weitere Kostenlose Bücher