Starke Frauen
sagt Stummfilmregisseur Murnau zu ihr, »die ideale Besetzung der Jungfrau von Orléans.« Mit 26 Jahren ist Fräulein Stinnes die erfolgreichste Rennfahrerin der Welt. Um diese Zeit muss ihr die Idee für ihre Weltreise gekommen sein.
Ein Jahr lang studiert sie Generalstabskarten, aktiviert ihre Bekannten in der Politik, um Reisedokumente zu beschaffen, treibt von Großunternehmen wie Bosch und Aral 100 000 Reichsmark ein (von der Familie bekommt sie keinen Pfennig). Die Adler-Werke stellen einen dunkelgrünen Adler Standard 6 (50-PS-Motor, 3-Gang-Getriebe), weilsie auf einem Wagen besteht, den man bei jedem Händler kaufen kann. Einziges Extra: zwei Liegesitze.
Die Reise führt durch 23 Länder der Alten und Neuen Welt. Entlang der Route müssen Depots für Benzin, Öl, Ersatzteile eingerichtet werden – eine logistische Meisterleistung. Reichsminister Gustav Stresemann verschafft Clärenore den »Ministerialpass Nr. 543«, der »alle Behörden und militärischen Dienststellen des In- und Auslands« verpflichtet, der »Passinhaberin nötigenfalls Schutz und Beistand zu gewähren«.
Ihre Fahrt soll nicht zuletzt für die Qualität deutscher Industrieprodukte werben. Einen Vertrag mit einer Zeitung und einer Filmfirma gibt es auch. Wage Neues, berichte darüber – so hat sie es vom Papa gelernt.
Die Ausrüstung besteht aus Spaten, Spitzhacken, Drahtseilen, Flaschenzügen, Dynamit und Spirituskocher. Außerdem: drei Sportkostüme, drei Nachmittags- und drei Abendkleider (für eventuelle Gala-Empfänge), 128 hart gekochte Eier als eiserne Reserve. Und: »Von den Mauser-Werken erhielt ich drei Pistolen und Munition, sodass wir uns auch wohlbewaffnet fühlen konnten.«
Die Adler-Werke stellen ihr auch einen Lastwagen und zwei Mechaniker (die allerdings schon in Moskau aufgeben). Den schwedischen »Filmoperateur« Carl-Axel Söderström hat sie selbst eingestellt. Der Kameramann hat sich bei den Stummfilmen mit Greta Garbo einen Namen gemacht, aber hasst Fahrzeuge aller Art. Andererseits, die Chance, die »Welt« mit eigenen Augen zu sehen, ist zu verlockend. »Warum ich?«, will er wissen: »Weil Sie verheiratet sind«, sagt Fräulein Stinnes. Das erscheint ihr passender, als einen Junggesellen mitzunehmen. Auch noch an Bord, da für die Power-Lady unverzichtbar: Lord, Clärenores schwarzbrauner Gordon Setter.
Am 25. Mai 1927 steht das Team in Frankfurt am Main am Start. Nur vier Tage zuvor war Charles Lindbergh nach seinem Atlantikflug in Paris gelandet. Die Welt feiert ihn und ihren Glauben an eine Technik, die das Leben besser, schöner, glücklicher machen wird. 33 Stunden hatte er gebraucht, um ein Held zu werden, Clärenore wird 25 Monate brauchen.
Schon hinter Prag ist die Kupplung im Eimer: »Es sieht nicht so aus, als wenn die Autos die ganze Reise halten würden«, schreibt Carl inseinem Tagebuch. Hinter Belgrad gibt ein Kugellager des Lasters seinen Geist auf. In Belgrad notiert er: »Ich gäbe alles darum, wieder zu Hause zu sein. Und doch ist erst eine Woche vergangen von dieser entsetzlich langen Zeit.«
Stationen einer wahnwitzigen Expedition. Vor der bulgarischen Hauptstadt Sofia müssen sie im Bett des Nišava-Flusses fahren, da es keine Wege gibt. Das heißt: Felsbrocken wegräumen, Löcher mit Geröll füllen, zehn Kilometer in sechs Stunden.
In einem Gebirge hinter Ankara droht der Lastwagen umzukippen. Sie hängen sich an die Seite, um das Gleichgewicht auf dem Pfad zu bewahren: »Wir lernten kennen, dass es Augenblicke im menschlichen Leben gibt, in denen man sein Herz nicht mehr fühlt und nur wartet, ob es so oder so vorübergeht.«
In Syrien »38 Stunden am Steuer ohne Schlaf«.
Unterwegs nach Bagdad: 460 Kilometer bei 53 Grad im Schatten. Bei minus 53 Grad warten sie, bis der Baikalsee zufriert. Als Clärenore losfährt, bricht ein halber Meter breiter Eisspalt auf. Ein Wolfsrudel umkreist sie. Sie gibt Gas, der Wagen springt an. Ans Ufer gelangt, bietet sie Söderström das Du an. Danach betrinkt sich Clärenore fürchterlich mit Wodka.
Mongolei. Ihr Dolmetscher erklärt den Zöllnern, dass sie aus Deutschland kommen. »Was ist Deutschland?«, fragen die Beamten.
Bei der Dampferüberfahrt nach Japan erwischt sie ein Taifun.
Als sie die Anden überqueren, rollt der Pkw über Hochplateaus, die so steil sind, dass Clärenore und Carl sich vor der Abfahrt voneinander verabschieden.
Als Carl erkrankt und keine Arznei hilft, kocht sie einen Tee aus Kokablättern, der ihn wieder auf
Weitere Kostenlose Bücher