Starters
auf, klemmte mich hinter das Steuer und schaltete das Navi ein. Es hatte die muntere Stimme eines alten Cartoon-Helden.
»Wohin?«, fragte das Gerät gut gelaunt.
»Prime Destinations, Beverly Hills.«
Zwei Sekunden vergingen. Dann erklärte es: »Ziel unbekannt.«
Natürlich. Prime hielt seine Anschrift vermutlich geheim.
»Neue Adresse«, sagte ich und schaltete auf manuelle Eingabe um.
Ich wollte eben die Daten einspeichern, als die Stimme zurückkam.
Callie … nicht … nicht zurück zu Prime … kannst du mich hören? Du darfst auf keinen Fall zurückkehren … gefährlich …
Auf meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. »Gefährlich«, sagte die Stimme. Genau wie beim ersten Mal.
»Warum?«, fragte ich die Stimme. »Kannst du mir sagen, warum?«
Stille.
»Wer bist du?«
Keine Antwort.
Pistolen. Warnungen. Gefahr. Es gefiel mir ganz und gar nicht, dass ich mit einer Waffe in der Hand aufgewacht war. Aber mit einer Pistole konnte ich umgehen. Dagegen hatte ich keine Ahnung, was mich bei Prime erwartete.
Ich zog den Zündschlüssel ab und ging ins Haus zurück.
Ich schaltete Helenas Computer ein, um einiges über sie in Erfahrung zu bringen. Wenn sie meinen Körper übernahm, wann immer ich in Ohnmacht fiel, musste ich mehr wissen. Warum die Pistole? Vielleicht hatte irgendwer eine Rechnung mit ihr zu begleichen. Dann konnte ich das Ziel seines oder ihres Hasses werden.
Wie viele ihrer Freunde wussten, dass sie einen jungen Körper mietete? Außer jenem Zing-Mail-Absender, der ihr Tun offenkundig missbilligte. Falls das überhaupt ein Freund war.
Ich überflog Helenas Computer-Files. Mehr als hundert Jahre Arbeit, Erinnerungen, Briefe und Fotos. Ich sichtete das Material und fand heraus, dass ihr Sohn und dessen Frau im Krieg umgekommen waren wie die meisten ihrer Generation. Die beiden hatten eine Tochter namens Emma. Helenas Enkelin musste etwa so alt sein wie ich.
Ich loggte mich in den CamPages ein, den Portalen, in denen Leute von sich und ihrem Leben preisgeben konnten, was immer sie der Welt mitteilen wollten. Manche Teilnehmer waren so von sich eingenommen, dass man sich Aufzeichnungen ihres Alltags per Airscreen oder Holo-Modus ins Wohnzimmer holen konnte. Und die total Verrückten ließen die Kameras den ganzen Tag mitlaufen.
Helena hatte keine eigene Seite, aber das war nichts Ungewöhnliches. Viele Enders löschten ihre Seiten, sobald sie die hundert überschritten hatten. Wahrscheinlich fanden sie sich irgendwann zu reif für diese Art von Unsinn.
Von Emma hatte es mal eine Seite gegeben, aber die war gelöscht. Seltsam. Ich gab ihren Namen ein und stieß auf eine Todesnachricht. Ohne nähere Angaben. Das Begräbnis lag zwei Monate zurück.
Ich erinnerte mich an das Jugendzimmer, das ich gesehen hatte, als ich in der ersten Nacht die Räumlichkeiten erforschte. Ich stand auf, überquerte den Gang und betrat ihr Reich.
Die Trauer legte sich wie Nebel über mich. Sonnenlicht sickerte durch hauchdünne weiße Vorhänge, die in der stillen Luft wie erstarrt wirkten. Das hier war kein Zimmer, sondern ein Schrein. Etwas flackerte am Rande meines Blickfelds. Ich wandte mich dem Nachtschrank zu. Ein Holo-Frame, der unablässig die Erinnerungen abspulte, Tag und Nacht, Woche um Woche, ohne dass jemand den Aufnahmen Beachtung schenkte.
Ich setzte mich auf die Bettkante, um ihn genauer zu betrachten. Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte mich, als mir einfiel, dass unser Holo-Frame für immer verloren war. Die Inschrift am Sockel des Rahmens lautete »Emma«. Sie hatte Ähnlichkeit mit ihrer Großmutter, die gleiche energische Kinnlinie, den willensstarken Gesichtsausdruck. Sie strahlte die Selbstsicherheit der oberen Zehntausend aus, obwohl sie nicht die makellose Schönheit der Mädchen besaß, die in Diensten der Body Bank standen. Ihre Haut war glatt und gesund, ihre kühne Nase jedoch eine Spur zu lang. Die Bilder erzählten von einem erfüllten, privilegierten Leben – Tennis, Opernpremieren, ein Urlaub in Griechenland in Begleitung ihrer Eltern, die sie liebevoll umarmte.
Meine Blicke schweiften durch das Zimmer. Seit ihrem Tod waren erst zwei Monate vergangen. Allem Anschein nach hatte Helena seitdem nichts verändert. Ich hätte das Gleiche für meine Eltern getan, wenn mir der Luxus vergönnt gewesen wäre, in unserem Haus zu bleiben.
Eines fehlte allerdings. Ich konnte nirgends einen Computer entdecken.
Ich trat an den Kleiderschrank, um nach ihren Geheimnissen
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