Staustufe (German Edition)
es hier eigentlich?»
«Bist du wohl still!» Der Vater schüttelte Sebastian, dass es ihm fast das Schultergelenk ausrenkte. «Du gehst jetzt nach oben auf dein Zimmer. Sofort. Und dort verhältst du dich still. Gib mir dein Handy.»
Mit feuchten Fingern händigte Sebastian seinem Vater das Handy aus. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Jetzt schob sein Vater ihn zur Treppe, beobachtete, wie er hochging, folgte ihm in einem gewissen Abstand. Nachdem Sebastian seine Zimmertür hinter sich zugezogen hatte, hörte er bald, wie von außen etwas davorgestellt wurde.
Winter und Aksoy trafen sich um fünf. Es hatte längst aufgehört zu regnen. Nur dunkle Wolken hingen noch tief am Himmel. Aus den Fenstern des gemütlichen kleinen Bockenheimer Studentencafés leuchtete warmes gelbes Licht. Als Winter eintrat, überrollten ihn Erinnerungen an seine Jugend, an die Zeit mit Anfang zwanzig, als er auf der Fachhochschule in Wiesbaden studierte. In genau so einem kleinen Café hatte er damals Carola kennengelernt.
Aksoy war schon da, trug doch tatsächlich auch heute einen strengen Rolli. Aber dieser hier war knallrot. Sie gehörte zu den wenigen, denen solche Farben standen. Ihr Haar trug sie ausnahmsweise offen, sie sah damit jünger und weiblicher aus. Winter fand den Gedanken gar nicht schlecht, dass manche im Café vielleicht dachten, er hätte was mit ihr. Als sie beide vor ihren Getränken saßen, wurde es allerdings schnell geschäftlich.
«Wissen Sie, Herr Winter», begann Aksoy, «irgendwie fehlt mir wohl das Gefühl dafür, wann in einem Fall zu Ende ermittelt ist. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir die Mainmädchensache noch lange nicht der Staatsanwaltschaft übergeben. Es hätte ja auch alles ganz anders sein können. Zum Beispiel, wissen Sie noch, diese Inder im Haus in der Haeussermannstraße, diese drei jungen Männer. Da gab es doch auch Verdachtsmomente. Zum Beispiel hatte einer von denen eine Schnittwunde an der Hand. Die drei wurden nie richtig überprüft, keine Wohnungsdurchsuchung, kein Checken von Alibis. Oder die Anwohner am Mainufer. Wir wissen, Donnerstagnacht war das Mädchen bei Naumann. Wenn Naumann es nicht war, dann muss Jessica irgendwann am Freitag Kontakt mit ihrem Mörder aufgenommen haben. Kann gut sein, dass das wieder jemand war, bei dem sie die Nacht verbringen oder von dem sie sich aushalten lassen wollte. Vom Ablageort ausgehend, kann der Mörder eigentlich nur im Bereich um das Griesheimer oder Goldsteiner Mainufer gewohnt haben. Wie, wenn wir denjenigen noch gar nicht kennen? Es könnte irgendein unauffälliger Anwohner gewesen sein. Einer von den vielen, die nicht da waren oder nicht geöffnet haben an dem Morgen, als Heinrich und ich die Anwohnerbefragung gemacht haben. Bitte sagen Sie nicht wieder, ich hätte zu viel Phantasie. Das sind doch alles reale Möglichkeiten. Was ich wissen will, ist einfach: Ist das aus Ihrer Erfahrung normal, dass man eine Ermittlung beendet, und es gibt noch Wissenslücken, offene Möglichkeiten, die nicht überprüft wurden?»
Winter hatte während ihrer Rede immer wieder zustimmend genickt. Jetzt, da er nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten musste, stresste ihn weder ihre ehrgeizige Pedanterie noch ihre blühende Phantasie.
«Ich weiß genau, was Sie meinen», sagte er. «Erst mal ist es tatsächlich so, dass diese Ermittlung anders gelaufen wäre, wenn wir nicht gleichzeitig einen toten Kultusminister gehabt hätten. Aber trotzdem, selbst wenn wir breiter hätten ermitteln können, es wären Unsicherheiten geblieben. Viel weiter wären wir wahrscheinlich nie gekommen. Immerhin haben wir in dem Fall drei Personen, die vom Motiv und den Begleitumständen her als Täter in Frage kommen, und eine davon hat sogar ein Geständnis abgelegt. Oft hat man weit weniger in der Hand. Aber das ist ein Grundproblem, Frau Aksoy. Das werden Sie in der Kriminalarbeit nie los. Es bleiben immer Unsicherheiten. Es kann immer alles ganz anders gewesen sein. Sie kennen das sicher vom Kriminaldauerdienst. Da haben Sie eine Prügelei mit schwerer Körperverletzung, und der Beschuldigte sagt, der Geschädigte hat ihn zuerst angegriffen. Der wieder behauptet das Gegenteil, und von den Zeugen erzählt jeder eine andere Geschichte. Oder Sie haben eine junge Frau, die sagt, sie ist von jemandem vergewaltigt worden, den sie in der Disko kennengelernt hat. Sie identifiziert den Täter aus einer Reihe von Gästen, die an dem Abend da waren. Der Beschuldigte sagt
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