Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
weiter fragen, es sei denn, du möchtest doch die ganze Geschichte hören.«
Alexander winkte ab. »Nein, keine Fragen mehr. Aber jetzt würde ich vorschlagen, dass wir den Rückweg gemeinsam antreten. Mir scheint, heute Nacht sind wir nur zu zweit sicher.«
***
Für Steel war es eine Seltenheit, am Morgen ohne böse Vorahnung aufzuwachen. Wann immer er beim Regiment war, kamen ihm entweder die lästigen Pflichten der Kompanieverwaltung in den Sinn oder die Unwägbarkeiten der bevorstehenden Schlacht. Immer lastete irgendetwas auf seinen Schultern. Seit Tagen wachte er frühmorgens auf und verspürte Unbehagen, wusste er doch, dass er hinter den feindlichen Linien war. Außerdem gelang es ihm nicht, das Gesicht von Major Malbec aus seinem Gedächtnis zu verbannen.
An diesem Morgen jedoch mischten sich keine unangenehmen Bilder in seine Gedanken. Gewiss, der Zwischenfall auf der Straße – der Kampf mit dem Iren – war Grund genug, sich Sorgen zu machen. Denn man hatte seine Tarnung durchschaut. Doch Steel hoffte, dass die drei Gegner, die Alexander und er ausgeschaltet hatten, keine Gelegenheit mehr gehabt hatten, ihr Wissen an andere Helfershelfer weiterzugeben. Auch Malbec bereitete Steel noch Kopfzerbrechen, aber diese Angelegenheit stand für ihn nicht im Vordergrund.
Vielleicht war er auch deshalb so gefasst, weil er Alexander begegnet war. Das Band zwischen den Brüdern war stärker als alle politischen Auffassungen. Eine Gewissheit, die sich bestätigt hatte, als Alexander ihm das Leben rettete.
Außerdem hatte Steel seinen Auftrag ausgeführt. Charpentier würde den Brief Marlboroughs an den König weiterleiten. Wie Ludwig letzten Endes auf das Schreiben reagierte, blieb dahingestellt. Dennoch, Marlboroughs Angebot war faszinierend und eröffnete ungeahnte Möglichkeiten in diesem langen Konflikt. Steel hatte ohnehin keinen Einfluss darauf, denn die Verhandlungen blieben Aufgabe der Oberbefehlshaber. Er war Soldat, kein Politiker.
Vielleicht, überlegte er, rührte seine gute Laune auch daher, dass er Paris an diesem Morgen verlassen würde. Mochte die Stadt ihn auch fasziniert haben, er verspürte das Verlangen, wieder bei seiner Kompanie zu sein. Natürlich sehnte er sich auch nach seiner Frau und hoffte, sie so schnell wie möglich wieder in die Arme schließen zu können.
Steel fragte sich, wie es seinen Männern bei der Belagerung von Lille ergangen sein mochte. Jede Belagerung war eine blutige Angelegenheit, wie er aus Erfahrung wusste. Vielleicht die blutigste Variante der Kriegsführung. Aber Lille war Vaubans Paradefestung, sodass Steel nur hoffen konnte, dass es in den eigenen Reihen keinen allzu großen Verluste gegeben hatte.
Vor allem fragte er sich, ob die Rolle des Spions überhaupt zu ihm passte. Die früheren Missionen für den Herzog waren ebenfalls gefährlich gewesen, sowohl in Bayern als auch in Ostende. Doch abgesehen von der kurzen Episode in Ostende, als er mit dem Freibeuter Duguay-Trouin zu tun gehabt hatte, war er nicht gezwungen gewesen, einen anderen Namen anzunehmen. Eins stand fest: Kein Auftrag war bislang so voller Gefahren gewesen wie der Aufenthalt in Paris, der Hauptstadt des Sonnenkönigs.
Steel hatte sich nicht nur auf einer Soiree bewähren müssen, umgeben von Höflingen und Offizieren, er hatte obendrein dem Thronprätendenten gegenübergestanden. Nein, dachte er jetzt, keinen Moment würde er es bedauern, Paris zu verlassen. Männer wie Simpson waren viel besser befähigt, die Rolle des Spions zu spielen – Männer, die nichts zu verlieren hatten und die für diese neue Identität lebten. Ein Mann wie Simpson schien sich so sehr an das Doppelleben gewöhnt zu haben, dass er die Gefahren, die jeder Tag mit sich brachte, geradezu genoss. Für Simpson bedeutete ein Klopfen an die Tür gewiss keine Bedrohung, im Gegenteil, jede noch so unerwartete Begebenheit war für diesen cleveren Mann eine neue Herausforderung, die eigene Kühnheit und geistige Überlegenheit unter Beweis zu stellen. Vielleicht brauchten Spione wie Simpson diesen Nervenkitzel.
Da Steel während der letzten Tage auf seinen Diener hatte verzichten müssen, hatte er sich stets allein angekleidet. Jetzt gönnte er sich den Luxus, eine Zeit lang am Fenster zu stehen und hinunter in den Garten zu schauen. Man hatte ihm einen schlichten Raum im Südflügel des Gebäudes zugewiesen. Charpentier hatte dieses Zimmer bewusst ausgewählt. Denn der Mann, der vorher darin gewohnt hatte – ein
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