Stefan Bonner und Anne Weiss
Schule musste er oft völlig sinnloses Zeug lernen. Zum Beispiel, wo der feine Unterschied zwischen Tund ra und borealer Taiga liegt, obwohl er weder das eine noch das andere je mit eigenen Augen sehen wird, oder wie die zweite binomische Formel lautet. Damit kann unser Gameboy zwar eines Tages ganz schick Professor werden, wenn er alles richtig macht. Für das tägliche Leben und den Berufsalltag bringt ihm das ganze angelernte Fakten wissen allerdings herzlich wenig. Wichtiger wäre es, wenn auf seiner Hauptspeicherplatine anwendbares Wissen parat stünde, Wissen, das ihm die Macht verleiht, mit neuen Situationen umzugehen, seine Kenntnisse gezielt einzusetzen und sich dadurch neues Wissen anzueignen. Denn das ist das zweite Kardinalproblem: Wissen ist heute unendlich. Das gesamte Wissen der Welt verdoppelt sich inzwischen alle fünf bis zehn Jahre. Man muss bloß einmal in eine Bibliothek gehen oder ein paar Stunden im Internet surfen, um die Umrisse des Wissensgebirgsmassivs zu erkennen, dem man sich gegenübersieht.
»Bildung ist, wenn man weiß, wo das Wenige, was man weiß oder zu wissen glaubt, ins Gan ze des Wissens hingehört.« Vittorio Hösle
Es wäre also vermessen, alles wissen zu wollen. Einer der tröstenden Sätze, die unsere Lehrer immer parat hatten, wenn wir mal wieder an einer Aufgabe verzweifelten, war: »Man muss nicht alles wissen, man muss nur wissen, wo es steht.« Solange man zusätzlich über ei-nen gesunden Menschenverstand verfügt, mag das stimmen. Aber wenn man zu doof ist, sich den richtigen Spickzettel auszusuchen, dann hat man Pech gehabt.
Denn ganz so einfach ist heute auch die Wahl der richtigen In-formationsquelle nicht mehr. Es ist schon nicht einfach, zu wissen, wo etwas steht und ob die Quelle verlässlich ist. In dem Maß, in dem die Fülle verfügbaren Wissens wächst, verkürzt sich zudem auch dessen Halbwertzeit. Die Abfolge neuer Erkenntnisse wird immer schneller. Was heute noch aktuell und neu ist, kann morgen schon so alt sein wie die Handytarife von letzter Woche.
Gleichzeitig erschweren Datenmüll und ungerechtfertigtes Bes serwissertum im Netz die Suche. Wir müssen täglich versuchen, der Informationsflut Herr zu werden, die über uns hereinbricht – und über Wasser halten können sich nur diejenigen, die ihr Wis-sen spezialisieren und in einem eingegrenzten Bereich zu Experten werden.
Die wahllose Aneignung von enzyklopädischem Wissen ist nicht mehr entscheidend. Der Umgang mit Wissen ist heute wichtiger als der Fundus, den man davon in seinem Kopf beherbergt. Wer wirklich im Bilde sein will, muss in der Lage sein, sich aus dem unbegrenzten Wissensmeer jene Puzzleteile herauszufischen und zusammenzusetzen, die ein stimmiges Gesamtbild ergeben und nicht bloß einen unscharfen Bildsalat. Dabei ist dann allerdings ein scharfer Verstand gefragt, den man bei der Generation Doof oft vergebens sucht.
Wie gut oder schlecht es um die Fähigkeiten und Kenntnisse der Wissens-User bestellt ist, hat die PISA-Studie gezeigt. Denn PISA testet nicht nur faktisches Wissen, sondern auch logisches Denkvermögen. Und gerade in dieser Hinsicht tut sich in Deutschland ein schwarzes Loch auf.
Gleich zweimal schickte die OECD der Bundesregierung einen blauen Brief für ihre im weltweiten Vergleich hinterherhinkenden Schüler. Beim jüngsten Test landete Deutschland abgeschlagen im Mittelfeld, weit hinter den Gewinnern.
Wir Autoren wagten daraufhin den Selbsttest, um dem Myste-rium auf die Schliche zu kommen. Kann man PISA können? Wir waren zuversichtlich, denn immerhin haben wir es schwarz auf weiß, dass wir alle Stationen einer ordnungsgemäßen Schul-und Studienkarriere durchlaufen haben.
Doch auch mit dem Abizeugnis in der Tasche stellten wir fest, dass wir mindestens zwei Drittel der gestellten Fragen aus dem Stegreif nicht hätten beantworten können. Vor allem bei Mathematik und in den Naturwissenschaften gingen wir geistig in die Ho-cke. Eine Beispielaufgabe zeigte anhand eines Diagramms, »wie die Geschwindigkeit eines Rennwagens während seiner zweiten Runde auf einer drei Kilometer langen flachen Rennstrecke variiert«. Die PISATester wollten wissen, »wie groß die ungefähre Entfernung von der Startlinie bis zum Beginn des längsten geraden Abschnitts der Rennstrecke« sei und was wir »über die Geschwindigkeit des Wagens zwischen den Markierungen von 2,6 km und 2,8 km« sa gen könnten. Neben den Fragen waren fünf Rennstrecken aufge-zeichnet, und wir sollten
Weitere Kostenlose Bücher