Stefan Zweig - Gesammelte Werke
alles von Ihm.«
Noch lange saßen in jener Nacht die Juden in Pera beisammen. Keiner konnte schlafen, unablässig redeten und berieten sie mit heißen, überwachen Augen. Noch nie hatten sie sich dem Wunderbaren so nahe gefühlt. Wie, wenn jetzt wirklich die Zerstreuung zu Ende wäre und die grausame Not der Fremde, das ewige Gejagt- und Getretensein, das tägliche, das nächtliche Ängsten vor der nächsten Stunde und dem nächsten Tag? Wie, wenn dieser Greis, der leibhaftig unter ihnen gesessen, wahrhaftig der Gesendete war, einer der Mächtigen des Wortes, wie sie einstens in diesem Volke aufgestanden und das Herz der Könige zu lenken gewußt zur Gerechtigkeit: Unausdenkbares Glück, unglaubhafte Gnade, die Heiligtümer heimführen zu können, den Tempel neu aufzubauen und in seinem Schatten zu wohnen – wie Trunkene sprachen sie davon, die ganze wirre lange Nacht, und immer hitziger ward ihre Zuversicht. Vergessen hatten sie die Mahnung des Greises, sie sollten kein Wunder erwarten von ihm, denn nichts anderes hatten sie als Juden in ihren heiligen Büchern gelernt, als an Gottes Wunder zu glauben, und wie anders konnten sie leben, sie, die Verstoßenen, die Gedrückten einer ewigen Verfolgtheit, als durch dieses ewige Warten auf die Erlösung? Und je mehr sie sich kürzte, desto länger schien ihnen die Nacht bis zum kommenden Tag, und sie vermochten ihre Herzen nicht mehr zu zügeln; unablässig blickten sie auf die Sanduhr, die ihnen zu langsam und träge rann, immer trat einer zum Fenster, immer wieder ein anderer hinaus auf die Gasse, ob der Frühschein nicht endlich glänzen wolle am Rand des verdunkelten Meeres und der Tag sich entzünden wie ihr eigenes brennendes Herz. Harte Mühe hatte der Vorsteher, die Gemeinde zu zügeln, die sonst ihm willig gehorsam war. Denn alle wollten sie an diesem Tage nach Byzanz hinüber, alle Benjamin begleiten und harrend stehen vor dem Palaste, indes er mit dem Kaiser, dem Beherrscher der Welt, sprach, um selbst auch näher und mehr mit dem eigenen Leibe teilhaftig des Wunders zu sein. Aber strenge erinnerte sie der Vorsteher, wie gefährlich es sei, wenn sie in geschlossenem Zuge oder in auffälliger Masse erschienen vor des Kaisers Palast, denn feindselig war das Volk und immer und überall den Juden Aufsehen gefährlich. Nur mit harter Drohung konnte er erzwingen, daß sie alle im Gebethaus von Pera versammelt blieben und, unsichtbar den andern, beteten zu dem Unsichtbaren, während Benjamin vor den großen Herrscher geführt ward. Und so beteten sie und fasteten sie diesen ganzen Tag. Sie beteten so inbrünstig und stark jeder einzelne, als wäre das Heimweh aller Juden der Erde in jedes einzelnen kleinem Herzen enthalten, und ihr Sinn blieb verschlossen allen andern Gedanken der Welt außer diesem einen: jener möge das Wunder vollbringen und der Fluch der Fremde von dem Volke gnädig genommen werden.
Es war nahe bei Mittag, der vorgeschriebenen Zeit, da überschritt Benjamin mit dem Vorsteher der Gemeinde den weiten, viereckigen, säulenumstandenen Platz vor dem Palaste Justinians. Hinter ihnen schleppte Jojakim, der Junge, der Kräftige, auf den Schultern eine schwere verdeckte Last. Langsam, ruhig und ernst traten die beiden Greise in ihren dunklen, einfachen Gewändern auf die bronzene Pforte der Chalké zu, die den Eingang bildete zu dem prunkvollen Thronsaal der Kaiser von Byzanz. Aber lange über die vorgeschriebene Zeit mußten sie in der Vorhalle warten, denn es war berechneter Brauch des byzantinischen Hofes, Gesandte und Bittsteller endlos im Vorraum harren zu lassen, damit dies Warten innerlich sie belehre, welche außerordentliche Gnade ihnen zuteil ward, das Antlitz erschauen zu dürfen des Mächtigsten der Erde. Eine Stunde und eine zweite und eine dritte ließ man, ohne den beiden Greisen einen Schemel zu bieten oder einen Stuhl, sie gleichgültig herumstehen auf kaltem Marmor. Vorbei eilten an ihnen in müßiger Geschäftigkeit die Würdenträger und fetten Eunuchen, die Garden des Hofes und die in Farben funkelnden Diener, jedoch keiner kümmerte sich um sie, keiner blickte oder sprach sie an, indes von den Wänden bunt und kalt die ewig gleichen Mosaiken auf sie niederstarrten und von oben herab immer tiefer die säulengetragene Kuppel ihr üppiges Gold mit dem Einstrahl der Sonne vermischte. Aber Benjamin und der Vorsteher der Gemeinde harrten geduldig und still. Als Greise wußten sie wohl zu warten. Zu viel Zeit war an ihnen
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