Steh dir nicht im Weg
Stromstöße. Das heißt sie lernten, dass sie dem, was geschah, hilflos ausgeliefert waren. Anschließend brachte man die Hunde der beiden Gruppen in einen Käfig, der durch eine niedrige Trennwand geteilt war, die die Hunde aber leicht überspringen konnten. Dort wurden sie erneut den Stromstößen ausgesetzt. (Es liest sich entsetzlich, was mit den armen Hunden alles angestellt wurde! Immerhin muss erwähnt werden, dass Seligman, der sich bei den Tierversuchen selbst nicht wohl fühlte, sie wenigstens direkt in dem Moment beendete, als er seine Annahmen bestätigt sah. Außerdem waren es, wie gesagt, nur schwache Stromstöße.) Die Hunde, die gelernt hatten, dass ihr eigenes Verhalten eine Wirkung hat, hatten schnell herausgefunden, dass sie sich durch einen Sprung über die Trennwand den Stromschlägen entziehen konnten. Die Hunde, die »Hilflosigkeit« gelernt hatten, versuchten gar nicht erst, über die Trennwand zu springen, sondern legten sich ergeben hin und ließen die Stromschläge über sich ergehen.
Auf Menschen übertragen bedeutet das: Wer unter schwierigen Bedingungen aufgibt und das Geschehen einfach passiv über sich ergehen lässt, schätzt auch andere Situationen häufig so ein, dass er ohnehin nichts beeinflussen kann. Er hat keine Hoffnung auf Veränderung, schon gar nicht auf eine Veränderung, die er selbst bewirken kann. Das Gefühl von Hilflosigkeit gehört zu den am meisten lähmenden Erfahrungen, die ein Mensch machen kann. Wer sich |57| hilflos fühlt, sieht keinerlei Möglichkeiten, irgendwie tätig zu werden. Der Blick ist wie verstellt, denn man sieht einfach keine Lösungsmöglichkeiten. Auch der Zugriff auf die eigene Kreativität ist versperrt. Es ist nicht so, dass man »absichtlich« in einem unproduktiven Zustand verharrt: Es fällt einem einfach nichts ein! Im schlimmsten Fall fühlt man sich ausgeliefert, wehrlos und wertlos.
Das Fundament für das Gefühl von Hilflosigkeit wird meist schon in der Kindheit gelegt. Es kann durch immer wiederkehrende Entmutigung entstehen, durch traumatische Ereignisse oder durch gänzlich unberechenbares Verhalten der wichtigsten Bezugspersonen. Die »hilflose« Sichtweise erlernen Menschen aber auch, wenn sie zum Beispiel während ihrer Kindheit nie die Erfahrung gemacht haben, dass sie imstande sind, selbst etwas für sich zu erreichen. Wer etwa von Eltern erzogen wurde, für die ein einmal ausgesprochenes »Nein« auch immer ein Nein bleiben musste, konnte nie die Erfahrung machen, dass man durch gute Argumente ein »Ja« daraus machen kann.
Das heißt natürlich nicht, dass Kinder lernen sollen, dass ein »Nein« mal ein »Nein«, mal ein »Ja« und mal ein »Vielleicht« bedeuten kann. Wenn ein Kind einem »Nein« lediglich ein trotziges »Ich will aber!« entgegensetzt, ist es für die Eltern, die gute Gründe für ein Verbot haben, sicher richtig beim »Nein« zu bleiben. Aber wenn ein Kind gute Argumente vorbringt, schadet man ihm nur, wenn man um des Prinzips willen beim »Nein« bleibt. Denn dadurch lernt das Kind, dass es nichts verändern kann, egal wie viel Mühe es sich gibt.
Besser ist es, wenn ein Kind lernt, durch eigene Aktivität etwas bewirken zu können. Unsere Tochter hatte als Zwölfjährige mit ihrer Freundin den Plan ausgeheckt, während der Schulferien ein paar Tage auf einem Campingplatz bei Bregenz zu zelten. Das ist von unserem Wohnort Konstanz aus sehr leicht mit dem Schiff zu erreichen. Unsere erste Reaktion angesichts dieses abenteuerlichen Vorschlags war natürlich trotzdem: »Das kommt überhaupt nicht infrage. Das ist doch viel zu gefährlich!« Doch nach und nach überzeugten |58| uns die Mädchen, dass sie wirklich an alles gedacht hatten und so, wie sie es geplant hatten, von »Gefährlichkeit« überhaupt nicht die Rede sein konnte – sie wollten schließlich nicht in die Wildnis. Wir waren sogar ziemlich beeindruckt von der sorgfältigen Vorbereitung, die die beiden schon geleistet hatten. Wir gaben also, nachdem wir uns noch auf einige Regeln geeinigt hatten, unsere Erlaubnis.
Ein Kind sollte die Gelegenheit haben zu lernen, dass es durch gute Vorbereitung und vernünftige Argumentation (innerhalb seiner Möglichkeiten) auch mit Widrigkeiten wie einem elterlichen »Nein« umgehen kann, dass es sein Leben gestalten kann und dem elterlichen Machtwort nicht hilflos ausgeliefert ist. Hat ein Kind hingegen das Motto »Ich kann doch sowieso nichts bewirken!« verinnerlicht, wird es irgendwann gar nicht
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