Steilufer
viel heißen, denn eigentlich war der Vize-Kriminaldirektor sonst nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Eben deswegen war er bei den Kolleginnen und Kollegen beliebt. Wer ihn überzeugen wollte, der brauchte vernünftige Argumente – Machtkämpfe und Prinzipienreiterei waren dem großen, beinahe dürren Mann fremd. Doch jetzt legte sich die Stirn seines fast haarlosen Kopfes in tiefe Sorgenfalten.
»Egal, ob Staatsanwalt Lüthges Vermutung sich bestätigt oder nicht: Kolleginnen und Kollegen, ihr wisst, dass ein gewaltsam zu Tode gekommener Ausländer hier in Lübeck große Aufmerksamkeit von Presse und Öffentlichkeit auf sich ziehen wird. Deshalb: Wir müssen in diesem Fall noch sorgfältiger als sonst arbeiten, wir dürfen uns nicht einen Patzer erlauben.«
Eckmann sah ernst in die Runde.
Die Vorgänge um die Brandstiftung in einem Asylbewerberheim in Lübeck Mitte der 90er Jahre, durch die 10 Menschen den Tod fanden und die nie endgültig aufgeklärt werden konnten, hatten in der Öffentlichkeit Zweifel an der korrekten Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft geweckt. Bis heute gab es Leute, die glaubten, es sei damals schlampig bis bewusst nachlässig ermittelt worden. Kein Wunder also, dass der neue Fall Nervosität erzeugte.
»Vielleicht haben wir ja Glück und das Schlauchboot ist aus Meckpomm hier angetrieben. Die im Osten mögen doch erst recht keine Ausländer«, warf jemand halblaut in die Runde.
Angermüller räusperte sich.
»Diesen unqualifizierten Kommentar will ich nicht gehört haben. Die Statistik spricht für Schleswig-Holstein eine andere Sprache, wie wir alle wissen. Wir sollten sofort die Akten unserer deutschnationalen Kunden durchforsten, davon haben wir hier nämlich auch mehr als genug. Also, wer in letzter Zeit durch irgendwelche Großtaten auffiel oder gerade aus dem Knast entlassen wurde.«
Kriminaloberkommissar Niemann und Kriminalobermeisterin Kruse konnten sich ein kurzes, zufriedenes Grinsen nicht verkneifen.
»Läuft schon. Wir haben uns deswegen bereits mit den Kollegen vom Staatsschutz in Verbindung gesetzt«, sagte Thomas Niemann. Er erfüllte die Aufgabe des Aktenführers nicht nur sehr gewissenhaft, sondern ging der bei vielen Kollegen unbeliebten Tätigkeit mit ausgeprägter Leidenschaft nach. Zwischen Aktendeckeln und auf dem Bildschirm wurde der Fall für ihn zu einem aufregenden, riesigen Puzzle, an dem er Tage und Nächte verbringen konnte, von den Kollegen draußen mit immer neuen Informationen gefüttert, die er dann in einen logischen Zusammenhang zu bringen versuchte. Schon in mehreren Fällen hatte Anja Kruse mit ihm zusammengearbeitet und die beiden schienen sich aufs Beste zu ergänzen. Insofern hatte Angermüller die junge Frau nicht ganz uneigennützig bei dem Kollegen Ameise abgezogen, für den sie ohnehin nur das Objekt seiner schlechten, zweideutigen Witze war.
»Ihr habt die Bilder gesehen – das Opfer hat so gut wie kein Gesicht mehr, was natürlich unsere Nachforschungen um einiges erschwert«, mischte sich Georg Angermüller ein.
»Deshalb schlage ich vor, dass wir eine Rekonstruktion seines Gesichts in Auftrag geben.«
Eckmann wiegte skeptisch seinen Kopf.
»Eine sehr gute Idee! Aber wer soll das denn machen? Die vom LKA in Kiel können das nicht, soviel ich weiß.«
Angermüller überlegte.
»Ich werde mich darum kümmern. Vielleicht gibts ja eine Möglichkeit.«
»Versuchs, Georg. Wenn es klappt – umso besser!«
Eckmann sah in die Runde.
»Gut. Mit dem Durchsehen der Liste von abgängigen Personen und dem Überprüfen der in Frage kommenden Häfen, wo dieses Boot vermisst werden kann, seid ihr erst einmal beschäftigt. Mehr können wir jetzt nicht tun. Vielleicht bringen uns die Erkenntnisse aus Obduktion und Labor ja weiter.«
Er machte eine kleine Pause und fügte dann hinzu:
»Und noch etwas: Es ist absolut wichtig, dass alle weitergegebenen Informationen koordiniert werden, damit wir den schmalen Grat zwischen Auskunft und Geheimhaltung ohne Absturz hinkriegen. Das heißt im Klartext: Nachrichtensperre – wenn hier überhaupt Informationen rausgehen, dann über mich.«
Alle Anwesenden signalisierten Zustimmung.
»Habt ihr sonst noch was?«
Als niemand sich zu Wort meldete, schlug der Kriminaldirektor leicht mit beiden Händen auf die Resopaltischplatte und erhob sich.
»Na, denn man tau! Wann sehen wir uns hier wieder, Georg?«
»Morgen Nachmittag, 4 Uhr.«
»Alles klar – bis dahin, in alter Frische!«
Eckmann
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