Stein und Flöte
Näherkommen konnte Lauscher das Wirtshausschild erkennen, das an einem schmiedeeisernen Gestell über dem Eingang hing: Es zeigte einen leuchtend blau gemalten Esel, der im Sprung über ein Gatter setzte. Also doch ein Gasthaus zum Esel, sagte sich Lauscher beruhigt, als sie durch die Einfahrt gingen.
Durch eine Seitentür betraten sie die Gaststube. Die kleinen Fenster ließen nur spärliches Licht herein, so daß man im Halbdunkel zunächst wenig erkennen konnte. An den Wänden entlang lief eine Sitzbank, vor der drei Tische standen, deren dicke Holzplatten so abgescheuert waren, daß die dunklen Astaugen wie braune Beulen aus dem hellen Holz hervorstanden. Die hintere Ecke an der Innenseite der Stube wurde ausgefüllt von einem riesigen Kachelofen.
Der Sanfte Flöter klopfte mit dem Knöchel auf eine der Tischplatten, gleich darauf wurde an der gegenüberliegenden Seite eine Tür geöffnet, und ein älterer vierschrötiger Mann trat herein. Er hatte eine blaue Arbeitsschürze vorgebunden und trug auf seinem nahezu vierkantigen, kahlrasierten Schädel eine runde Filzkappe von undefinierbarer Farbe.
»Guten Morgen, Flöter«, sagte er mit einer überraschend hohen, fast wiehernden Stimme. »Was steht zu Diensten?«
Der Großvater erwiderte den Gruß und fuhr fort: »Ich brauche ein gutes Reittier für meinen Enkel. Kannst du einen deiner Freunde fragen, ob er so liebenswürdig ist, den Jungen eine Zeitlang zu tragen?«
»Meinst du den langen Burschen dort?« fragte der Wirt und zeigte auf Barlo. »Ich weiß nicht, ob sich da einer bereit findet.«
»Nein« sagte der Großvater. »Das ist Barlo, und der holt sich das Pferd ab, das ich bei dir untergestellt habe.« Er nahm Lauscher bei der Schulter und schob ihn vors Fenster, damit ihn der Wirt besser betrachten konnte. »Das hier ist mein Enkel. Schau ihn dir an. Er ist noch jung und nicht sehr schwer gebaut.«
Der Eselwirt musterte Lauscher von Kopf bis Fuß, als sei er ihm zum Kauf angeboten worden. Fehlt nur noch, daß er meine Zähne prüft, dachte Lauscher. Inzwischen umkreiste ihn der Wirt und betrachtete ihn auch noch von hinten. Dann nickte er zufrieden und sagte: »Ein netter, schmaler Junge. Da weiß ich schon, wen ich fragen werde. Kommt mit vor die Tür, dort könnt ihr meinen Freund gleich herangaloppieren sehen.«
Sie folgten ihm hinaus vor die Einfahrt. Am Wegrand blieb der Eselwirt stehen, hielt die Hand über die Augen und spähte hinauf zu den fernen Hügeln jenseits des Baches. Dann legte er die Hände wie einen Schalltrichter an den Mund und stieß einen langen, hohen, wiehernden Schrei aus, so gellend laut, daß der lärmempfindliche Lauscher vor Schreck zusammenzuckte. Eine Zeitlang geschah gar nichts. Dann löste sich aus dem Buschwerk auf der Kuppe einer der Hügel ein grauer Punkt und glitt rasch den grünen Abhang herab. Im Näherkommen wurde er größer und erwies sich als ein vierbeiniges Tier, das in gestrecktem Galopp über die Wiesen heranjagte. Seine langen Ohren flogen hinter dem hochgereckten, schmalen Kopf. Ein Esel war es, der da heranpreschte. Aber was für ein Esel! Er hatte fast die Größe eines Wildpferdes, und auf seinem Rücken lief eine dunkle Linie über das mausgraue Fell. Kraftvoll trommelten seine Hufe auf den Boden, daß die Rasenstücke hinter ihnen wegspritzten. Er setzte im weiten Sprung über das Gatter, sprengte über das letzte Stück Wiese, machte einen Satz über den Bach und bremste seinen Lauf erst unmittelbar vor den Wartenden so plötzlich, daß auf dem Weg die Steine stiebten und Lauscher erschrocken zur Seite sprang.
»Keine Angst«, sagte der Eselwirt, »er tut nur so wild. Unter dem Sattel ist er fromm wie ein Lamm.« Er legte dem Esel die Hand auf den Hals, und das Tier rieb sein Maul an seiner Wange, daß es aussah, als wolle er ihm einen Kuß geben. »Danke, daß du gleich gekommen bist, Jalf«, sagte der Wirt zu ihm. »Begrüße auch meine Freunde.« Da trottete der Esel zu den anderen und ließ sich den Hals tätscheln. Bei Lauscher blieb er stehen, als wisse er schon, wozu man ihn gerufen habe.
Der Wirt sah Lauscher lächelnd an und fragte: »Wie gefällt er dir?«
»Ein wunderbarer Esel«, antwortete Lauscher, und er meinte es ernst. »Ich würde gern auf ihm reiten.«
»Dann mußt du ihn darum bitten«, sagte der Wirt. »Das ist hier so Brauch. Rede ihn dabei mit Namen an.«
Lauscher fand solche Umstände zwar etwas ungewöhnlich, aber als er dem Tier in die großen, feuchten Augen
Weitere Kostenlose Bücher