Steinhauer, Franziska
Stunden. Aber es tropft Wasser in einen Eimer – die Tropfen könnten im Sekundentakt fallen.“
„Es ist jetzt zehn Minuten nach vier – also läuft das Ultimatum morgen um zehn nach elf ab. Wohl eher elf Uhr elf, nicht wahr? Karnevalsauftakt. Sehr symbolträchtig. Was Sie von mir wollen, ist eine Einschätzung der Ernsthaftigkeit dieser Drohung, nicht wahr?“
„Ja, falls man das Risiko, dass die beiden wirklich zuschlagen, überhaupt abschätzen kann.“
„Es ist nicht so einfach Menschen zu töten, besonders dann nicht, wenn man damit weder virtuelle noch reale Erfahrungen hat“, setzte der Schulpsychologe zu einer Erklärung an.
Maja Klapproth dachte an Manfred Krause, den erschlagenen Pfarrer und das brutale Internetspiel der Satanisten.
Sie fror.
„Ich fürchte, wir müssen von Erfahrungen in beiden Welten ausgehen.“
Das verschlug Dr. Ulf Mendes für mehrere Sekunden die Sprache.
„Tatsächlich? Das ist prognostisch gesehen natürlich ebenfalls ungünstig. In der Regel wird solch ein Täter wohl einen Handlungshintergrund wählen, der ihm gut bekannt ist. Bei Jugendlichen kommt da, neben dem familiären Umfeld, wohl am ehesten die Schule in Betracht. Frustrationen erfahren sie gerade in diesem Kontext häufig. Sei es nun, dass man sich den Ungerechtigkeiten der Lehrer, ob sie nun gefühlt oder tatsächlich, ausgeliefert fühlt, oder dass man den Leistungsanforderungen nicht gerecht werden kann, man von sich enttäuscht ist oder von anderen beleidigt und gehänselt wird – die Möglichkeiten der Verletzung sind mannigfaltig“, fuhr er dann unaufgeregt mit seiner Analyse fort.
„Gab es Lehrer oder Mitschüler, mit denen die beiden besondere Schwierigkeiten hatten?“
„Da müsste ich in den Akten nachlesen. Aber verstehen Sie mich richtig: Die beiden waren krasse Außenseiter. Jeder auf seine Art!“Sie hörte den Schulpsychologen in seiner Wohnung umhergehen.
„Bei einem Amoklauf kommen in der Regel nicht nur die um, die sie wirklich ,erwischen‘ wollen. Es werden zum Beispiel Mitschüler getötet, von denen der Täter nicht einmal den Namen weiß.“ Es klang, als dächte Dr. Mendes laut und habe seine Gesprächspartnerin vergessen. „Aber darauf kommt es wohl in diesem Fall gar nicht an. Sie versuchen einfach, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Dann werden wir ab sofort die Schule überwachen. Es wäre doch möglich, dass Mario dort auftaucht, um sich noch einmal gründlich umzusehen oder um vorab Waffen zu verstecken.“
„Nun, es dürfte für ihn kaum notwendig sein, das Terrain zu sondieren. Er ist seit vielen Jahren Schüler an unserem Gymnasium. Ich glaube, seine Vorbereitungen können als abgeschlossen betrachtet werden. Sonst hätte er diese Mail auch nicht geschickt“, dämpfte der Psychologe ihre Erwartungen. „Auf diesem Foto ist nur Mario, sagen Sie?“
„Ja.“
„Was ist mit Julian?“
„Das wissen wir nicht. Es gab Tumulte. Möglicherweise haben die beiden sich aus den Augen verloren. Ich gehe, trotz des ,Wir‘, zunächst einmal von Mario als Einzeltäter aus.“
„In wenigen Stunden beginnt der Unterricht. Was sollen wir den Schülern sagen?“
„Das klären wir zunächst intern. Ich melde mich wieder bei Ihnen. Noch bleibt uns Zeit, Mario zu fassen“
„Was, wenn er sich nicht an sein Ultimatum hält? Ichwürde Ihnen raten, ihn so schnell wie möglich einzufangen! Zeit ist das Letzte, was Sie in dieser Situation haben!“, kommentierte Dr. Mendes eisig.
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„Es ist jetzt kurz nach sieben. Also bleiben uns nur noch achtundzwanzig Stunden! Woher wissen wir denn überhaupt, dass die Schule das Ziel sein wird?“ Dr. Glück betrachtete versonnen das Gesicht auf dem Monitor. „Hier steht nichts davon!“
„Ich habe mit dem Schulpsychologen telefoniert. Er hält die Schule für das wahrscheinlichste Ziel, weil sie nach der Familie den zweitwichtigsten Sozialisationsraum darstellt. Gerade hier entfalten sich Frust, Aggression, Antipathie und Hilflosigkeit in besonderer Weise, weil die inneren wie äußeren Strukturen von Schule dies begünstigen. Unfaire Lehrer, fiese Mitschüler, Prügel, psychischer Druck – alles ist hier zu finden.“ Sie entfaltete einen Stadtplan.
„Schule produziert Gewaltbereitschaft. Das ist tatsächlich so“, setzte sie nach und zeigte auf eine markierte Stelle. „Hier ist das Kästner-Gymnasium.“
„Ihr Kollege Paulsen informiert im Moment die
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