Steinhauer, Franziska
die Ärzte sich ihrer Diagnose sicher waren.
Dann stand es fest.
Fabian würde nie wieder gehen können.
Der Gesichtschirurg würde sicher ein ansprechendes Ergebnis erzielen, aber Fabian bleibe verändert.
Verändert!
Seine linke Gesichtshälfte bleibe gelähmt, ebenso der linke Arm.
An dem Tag, an dem er dies erfahren hatte, spuckte er sie an.
Ohne ein Wort.
Voller Verachtung.
Starrte an die Wand.
Zornig und verloren.
„Sieh nur hin, was du aus deinem Bruder gemacht hast!“, hatte ihre Mutter geschluchzt. „Sieh hin!“
Schuld war von da an das Wort, das ihre Gespräche bestimmte.
Fabian war wieder zu Kräften gekommen, störrisch und verbittert geworden.
Ein greiser Mann im Alter von fünfzehn Jahren.
Die Hauptkommissarin schlüpfte in einen Trainingsanzug und schaltete ihren PC ein.
Wenn sie ohnehin nicht mehr schlafen konnte, würde sie ein bisschen im Internet recherchieren.
Neugierig öffnete sie den Link auf einer satanistischen Site und erstarrte.
Mario grinste ihr auf dem Monitor entgegen.
Sein Gesicht war geschwärzt, in der Hand hielt er eine Maschinenpistole.
„Wir kriegen euch alle!“, stand in blutroten Lettern unter dem Foto.
„Was planst du?“, flüsterte sie. Dieser Mario hatte mit dem Jungen, der aus Köln verschwunden war, nicht mehr viel gemein. Er wirkte entschlossen, gewaltbereit und siegessicher.
Maja Klapproth überlegte fieberhaft.
Wir! Hieß das, Julian war mit von der Partie, oder hielt Mario es nur für wirkungsvoller, zu suggerieren, dass er nicht allein war? Und wer war der Tote aus der Etsch?
„Hallo, Malte! Natürlich weiß ich, wie spät es ist! Tut mir leid, aber wir haben ein Problem!“Im Büro suchte sie nach der Telefonnummer von Dr. Ulf Mendes.
Verschlafen meldete sich der Bariton des Psychologen. „Haben Sie Erfahrungen mit Amokläufern?“, fragte ihn Klapproth direkt und ohne Einleitung.
Am anderen Ende der Leitung blieb es zunächst still. „Frau Klapproth? Sind Sie das?“, wollte die Stimme wissen.
„Ja. Haben Sie Erfahrungen mit …“
„Moment!“, fiel Dr. Mendes ihr ins Wort. „Was soll das bedeuten? Wenn Sie wissen wollen, ob ich Ihnen zu diesem Phänomen etwas erzählen kann, lautet meine Antwort ja. Wenn Sie dagegen hören wollen, ob ich mit solchen Tätern schon zu tun hatte, muss ich Ihre Frage mit Nein beantworten.“
„Könnten Sie sich Mario Hilbrich als Amokläufer vorstellen?
„So direkt gefragt, jaaa, vielleicht. Er würde durchaus in das klassische Profil passen. Genauso wie Julian Baier und viele andere seiner Mitschüler. Zumindest bei oberflächlicher Betrachtung. Mario träumte stets davon, etwas Besonderes zu tun, wie so viele in seinem Alter. Er hat eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur, die solche Reaktionsweisen begünstigt. Zum Glück lösen die meisten pubertären Jugendlichen ihre Probleme aber eher gewaltlos.“
„Mario und Julian waren Mitglieder eine satanistischen Sekte, die sich wahrscheinlich aufgelöst hat.“
„Das ist natürlich bitter. In solch einer Sektengemeinschaft finden die Jugendlichen in der Regel genau das, was sie in ihrem sonstigen sozialen Umfeld schmerzlich vermissen: Anerkennung, Unterstützung, Bewunderung, Zusammenhalt, Vertrauen, Liebe, Gemeinschaft. Wenn sie daswieder verlieren, bleiben Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit, vielleicht aber auch Hass und Wut. Möglicherweise entsteht das Bedürfnis, Rache zu nehmen. Woran ist diese Gruppe denn gescheitert?“
„An der Gesellschaft, an Vorurteilen, am Hass der anderen. Der Hohepriester und Führer der Sekte wurde brutal getötet.“
„Ich nehme an, eine direkte Rache an denen, die den Mord begingen, ist nicht möglich?“
„Nein. Eher nicht.“
„Die beiden könnten ihrem geistigen Führer in den Tod folgen wollen. Besonders dann, wenn die Gruppe sich aufgelöst hat. Gleichzeitig kann es aber auch sein, dass der Mord gesühnt und mit Blut vergolten werden soll. Prognostisch keine günstige Situation. Ich glaube, Sie sollten mir erklären, wie Sie darauf kommen, Mario könnte einen Amoklauf planen?“
„Ich habe einen Link angeklickt. Damit gelangt man auf eine Internetseite, auf der mich Mario angrinst und mit ,Wir werden euch alle kriegen‘ droht.“
In dem Moment entdeckte sie unten auf der Seite ein kleines Kästchen und klickte es an.
„Und hier unten läuft ein Countdown!“, keuchte sie erschrocken. „Nur noch einunddreißig Stunden!“
„Nur Stunden? Keine Minuten, Sekunden?“
„Nein. Nur
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