Steinhauer, Franziska
frei nehmen, nur um hier bei Ihnen eine Meldung machen zu können. Damit haben wir beide einen Urlaubstag weniger, und unsere Chefs sind sauer. So kurzfristig bringt es immer Probleme, wenn jemand fehlt.“
„Wir haben noch nie so überstürzt freinehmen müssen! Noch nie!“, wetterte der Vater, „und dass wir jetzt hier sitzen, verdanken wir nur unserem Sohn!“
Malte Paulsen war sich darüber im Klaren, dass Mario ganz sicher wusste, was ihn erwartete, wenn er wieder nach Hause kam. Er an seiner Stelle wäre geblieben, wo er war.
„Eine Entführung schließen Sie aus?“
„Entführung? Ha!“, lachte Herr Hilbrich unfroh auf. „Bei uns ist nichts zu holen!“, meinte auch die Mutter. „Vielleicht wurde er zufällig mit entführt, als man Julian gekidnappt hat.“
Die Eltern durchdachten diese Möglichkeit.
„Na gut. Ausschließen kann man das nicht. Aber dieser Kidnapper müsste schon bemerkenswert ungeschickt gewesen sein. Ich binde mir doch nicht zwei dieser pubertierenden Jungs als Geiseln ans Bein, wenn ich es nur auf einen abgesehen habe!“ Frau Hilbrich schüttelte verständnislos den Kopf.
„Dann gehen Sie davon aus, dass Ihr Sohn Opfer eines Gewaltverbrechens wurde?“
Das verschlug den Eltern zunächst die Sprache. Offensichtlich hatten sie über diese Variante noch gar nicht nachgedacht.
„Aber nein!“, Frau Hilbrich fing sich schnell. „Mario weiß sich zu wehren! Und wissen Sie“, sie beugte sich überden Tisch und senkte die Stimme, „er ist ja schließlich kein schwuler Stricher! Nur denen passiert so etwas!“
Paulsen räusperte sich.
„Besitzt Ihr Sohn ein Mobiltelefon?“
„Wohl kaum! So einen sinnlosen, teuren Schnickschnack erlauben wir nicht!“
„Haben Sie uns ein Foto Ihres Sohnes mitgebracht?“ Die Mutter suchte lange in ihrer geräumigen Einkaufstasche und förderte schließlich eine zerknitterte Aufnahme zutage.
„Hier. Alle sieben Geschwister. Der da ist Mario.“ Sie zeigte mit ihren schrundigen Händen auf einen schmalen, dunkelhaarigen Jungen. „Aber so sieht er natürlich nicht mehr aus. Er ist jetzt viel größer und auch massiger geworden. Er treibt viel Sport. Und im Moment trägt er dauernd schwarze Klamotten, nicht so fröhliche bunte wie auf dem Foto. Das Bild hier ist schon ein paar Jahre alt.“
Irgendwie hatte Paulsen auch nichts anderes erwartet.
„Ich wusste natürlich, dass Sie mich danach fragen würden“, lächelte Frau Baier gequält. „Deshalb habe ich Ihnen auch die Datei mit den neuesten Bildern mitgebracht.“
Sie reichte Maja Klapproth eine silbern glänzende DVD. „Julian im achten Jahr danach“, stand darauf. „Sommerferien im Ridnauntal.
„Danke. Das wird unsere Arbeit erleichtern. Ich brauche dennoch eine Liste mit den Namen all seiner Freunde. Und Sie sollten ab sofort rund um die Uhr erreichbar sein. Wenn Julian tatsächlich entführt wurde, werden die Täter sicher mit Ihnen Kontakt aufnehmen.“
„Daran haben wir natürlich gedacht. Alle bei uns eingehenden Anrufe werden auf das Mobiltelefon meines Mannesumgeleitet. Aber bisher hat sich noch niemand gemeldet.“ Frau Baier öffnete ihre winzige Handtasche und entnahm ihr einen gefalteten, blauen Zettel. „Das sind alle Freunde, die ich kenne.“
Auf dem Zettel standen nur drei Namen.
Frau Baier musste die Verblüffung der Kommissarin bemerkt haben, denn sie setzte erklärend hinzu: „Sie dürfen nicht vergessen, wie schwächlich er lange Zeit war. Wir konnten ihm nicht erlauben, sich ständig mit irgendwem zu treffen. Womöglich in irgendwelchen rauchigen und schmuddeligen Bars. Das ging nicht! Da hätte er sich ja sonst was holen können!“
„Seine Infektabwehr ist also noch immer sehr schlecht? Ich muss genau wissen, wie hoch ich das individuelle Risiko Ihres Kindes einzuschätzen habe.“
Frau Baier stieß einen spitzen Schrei aus.
„Nun, in den letzten Jahren hat sich sein Zustand deutlich stabilisiert“, Herr Baier tätschelte tröstend die Hand seiner Frau. „Die Ärzte sind außerordentlich zufrieden mit seiner Entwicklung.“
„Ist Ihnen an Julian in der letzten Zeit irgendeine Veränderung aufgefallen?“
„Er hat sein Outfit verändert – läuft jetzt nur noch in Schwarz herum. Und er ist fast jeden Abend unterwegs, er hat behauptet, er treffe sich mit Mario. Ich hätte ihm das nicht erlaubt. Er hat sich aus dem Haus geschlichen!“
„Haben Sie ihn zur Rede gestellt?“
„Nein. Mein Mann war der Meinung, er höre von selbst auf,
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