Stella Blomkvist
ganzen Tag lang hat es Hagelschauer gegeben. Auf dem Land
ist noch mehr Schnee gefallen als in der Hauptstadt, und die Straßen sind
eigentlich überall unbefahrbar. Die Goldjungs sind deshalb noch nicht raus
aufs Land gekommen, um den Benzinjungen ausfindig zu machen.
Lilja Rós bringt den Kaffee, stellt
das Tablett auf den Couchtisch und setzt sich wieder. Sie hat sich die Trainingsjacke
ausgezogen, unter der sie ein ärmelloses T-Shirt trägt. Die Muskeln ihrer
Oberarme sehen aus wie gemeißelt, wie bei einem Leistungssportler.
»Sind das die berühmten Doping-Muckies?«,
frage ich.
»Natürlich nicht«, antwortet sie
umgehend. »Ich habe nur den ganzen Winter über viel trainiert. Ich denke sogar
darüber nach, ob ich nicht an den isländischen Meisterschaften im Bodybuilding
teilnehmen soll.«
»Hat Halla auch trainiert?«
»Nein, jedenfalls nicht mehr,
nachdem sie in die Stadt gegangen ist. Sie hatte so viel
anderes zu tun. Aber sie war mal eine gute Läuferin.«
»Seid ihr zusammen aufgewachsen?«
»Wir haben uns in Reykholt kennen
gelernt. Du weißt schon, in der Bezirksschule. Wir sind im Internat auf einem
Zimmer gelandet und wurden gleich gute Freundinnen. Von da an war ich in den
Sommerferien bei Halla auf dem Land. Als ihr Vater starb und der Bauernhof
verwaiste, war sie ganz alleine und zog zu uns.«
»Zu deiner Familie?«
»Ja. Später sind wir zusammen ins
Gymnasium nach Laugarvatn gegangen. Ich wurde Sportlehrerin, aber Halla machte
Abitur und fing dann mit einem Studium an der Uni an. Da hat sie die ersten
Verbindungen zur Politik geknüpft.«
»Und was hast du gemacht?«
»Ich ging zum Unterrichten in meinen
Heimatort. Aber wir hielten immer guten Kontakt. Während sie noch an der Uni
war, kam sie in den Sommerferien weiterhin zu uns. Sie kam auch in den
Weihnachtsferien. Später habe ich sie dann oft hier in der Stadt besucht.«
Sie ist den Tränen nahe, reißt sich
aber zusammen. »In den letzten Jahren haben wir auch einige Male unsere
Sommerferien zusammen im Ausland verbracht. Meistens in Italien. Halla konnte
so toll Italienisch sprechen,« Lilja Rós ballt die Fäuste und ringt um Beherrschung
bis der Damm bricht. Sie legt die Hände vors Gesicht, und die Tränen fließen in
Strömen.
Ich wechsele den Platz und setze
mich zu ihr ins Sofa. »Das ist schon okay«, sage ich und lege vorsichtig meinen Arm um ihre Schultern. »Heul
dich ruhig aus.«
Da zögert sie nicht länger, kuschelt
sich an mich und weint wie ein kleines Kind.
19
Das Schneetreiben hat endlich eine
Pause eingelegt. Ich hoffe nur, dass sich das Wetter für den Rest des Tages
hält.
In der Innenstadt ist mittags nichts
los. Dick eingemummelte Fußgänger tappen wie schwankende Zinnsoldaten den
spiegelglatten Bürgersteig entlang. Ich beobachte sie durch das Fenster des
Steakhauses, wo ich mir Nahrung verschaffe und für die Aufgaben des Tages
Kräfte sammle. Hab noch zirka vierzig Namen von Sindris zweiter Liste übrig.
Mache das nur aus verdammter Hartnäckigkeit weiter. Wie eine Bekloppte.
Danach gehe ich langsam die
Austurstraeti entlang. Ich bin in Gedanken bei Lilja Rós. Die war gestern Abend
völlig erledigt. Als sie schließlich aufgehört hatte zu weinen, ging ich mit
ihr ins Bad. Habe ihr das Gesicht gewaschen und abgetrocknet wie einem Kind.
Dann habe ich sie wieder ins Wohnzimmer geführt, wo wir uns nebeneinander aufs
Sofa gesetzt haben.
»Du solltest hier nicht alleine
sein«, sagte ich. »Gibt es nicht jemanden, der bei dir sein kann, während du
dich wieder erholst?«
»Ich bin es gewöhnt, alleine
klarzukommen.«
»Hast du Schlaftabletten?«
»Ich will nicht so ein Zeug
schlucken.«
Ich schaute Lilja Rós forschend an,
während sie sich langsam beruhigt. »Dieses Zeug,
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