Sterbelaeuten
gewöhnen würde. Vielleicht musste er auch einfach mal wieder richtig durchschlafen, im eigenen Bett bzw. auf der Ausziehcouch im Wohnzimmer. Wenn Alicja unter der Woche da war, überließ er ihr das Bett im Schlafzimmer. Er übernachtete ja ohnehin oft bei seiner Pflegepatientin. Hatte er jedenfalls.
„Gehst du jetzt nicht mehr zu der Familie?“
„Ich helfe morgen noch ein bisschen beim Aufräumen. Und sie wollen, dass ich dabei bin, wenn der Pfarrer kommt. Trauergespräch“, sagte er auf Deutsch. „Aber dann …“ Der Satz verlor sich im trostlosen Flair der in die Jahre gekommenen Küche. Antoni redete nie gerne über seine Arbeit. Alicja kannte das schon. Aber in den letzten Wochen war er noch verschlossener als sonst gewesen.
„Und du? Wie ist dein neuer Job?“, fragte Antoni. Klar, er wollte das Gespräch von sich ablenken.
„Oh, gut, bisher.“ Alicja ließ Wasser in ein Glas laufen und setzte sich dann auf den zweiten Küchenhocker.
„Wir waren zu dritt, also ohne den Chef. Der hat uns zu den Büros gefahren und wieder abgeholt. Hat jedes Mal hinterher kontrolliert, ob alles sauber ist.“ Sie verdrehte die Augen.
„Du bist neu, was erwartest du?“
„Schon. Die anderen sagen, er macht das immer.“ Komisch war nur, dass er gar nicht da nachschaute, wo sie nachschauen würde, nämlich in den Toiletten, auf den Küchenzeilen. Stattdessen inspizierte er die Schreibtische, auf denen man ohnehin kaum ordentlich sauber machen konnte, weil sie voller Papiere und Zeug lagen.
„Wie lange arbeiten die schon für ihn?“
„Jelena etwa ein halbes Jahr und Maja erst ein paar Wochen.“ Maja hatte ihr den Job vermittelt.
„Und wie ist er sonst so?“
„Okay, glaube ich. Zackig. Deutsch eben.“ Er war eigentlich sogar ganz nett. Hatte so ein gewinnendes Lächeln. Alicja konnte nicht genau sagen, was sie an ihm störte. Vielleicht war es der Eindruck, dass hinter der zuvorkommenden Fassade etwas Härteres, Geschäftsmäßiges lauerte. Aber das war zu erwarten, schließlich war er Geschäftsmann und Geschäfte machte man nicht ausschließlich mit Charme. Man musste auch hart sein können.
„Hat er dich schon bezahlt?“
„Nee, Ende der Woche.“
„Na, hoffentlich. Hast du gegessen?“
„Mittags ein Brot.“
„Mach dir noch was, du musst ja verhungern!“
„Ich weiß nicht.“ Alicja sah lustlos zum Kühlschrank. „Ist ja schon so spät.“
„Das hältst du nicht lange durch. Du musst ein paar Kunden loswerden“, sagte Antoni.
„Ja. Aber erst, wenn mir der neue Job auch sicher ist. Wenn der Boss mich nächste Woche wieder auf die Straße setzt, kann ich schlecht zu meinen alten Kunden zurückgekrochen kommen und betteln, dass sie mich wieder für sie putzen lassen.“ Alicja hatte von morgens um acht bis nachmittags vier bei ihren alten Kunden in Privathaushalten geputzt. Die Büros wurden erst ab dem späten Nachmittag gereinigt, dafür ging es aber bis um 22.00 Uhr.
„Und du?“, fragte sie ihren Bruder. „Hast du schon was in Aussicht?“
„Nächste Woche habe ich einen Vorstellungstermin. Wieder in Sulzbach.“ Er wandte sich ab, als sei das Gespräch für ihn beendet.
„Wieder eine alte Frau?“
Eine winzige Andeutung eines Nickens.
„Hm.“ Alicja beschloss, ihn in Ruhe zu lassen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Antoni tagein, tagaus mit einer alten Frau zusammen zu sein, sie zu waschen und solche Sachen. Und die Gespräche:
„Kommt denn die Evi heute nicht?
„Heute ist Donnerstag. Die Evi kommt freitags.“
„Ach, freitags. Aha.“
„Soll ich dir was aus der Zeitung vorlesen?“
„Nee, lass mal.“
Pause.
„Kommt denn die Evi heute nicht?“
Dafür war sie nicht gemacht. Aber ein Putzjob war auch nicht jedermanns Sache. Antoni war in dieser Hinsicht auf Josefs Seite. Alicja hatte das Gefühl, dass Antoni sie für leichtsinnig und verantwortungslos hielt, weil sie nach Frankfurt zum Arbeiten kam. Er war so konservativ, ihr kleiner Bruder. Eine Frau gehörte an die Seite ihres Mannes. Und musste für die Kinder da sein. Aber Alicja war schon immer die Liberalste in der Familie gewesen. Sie wollte ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Außerdem genoss sie es auch, so viel in Deutschland, im Ausland zu sein. Auch wenn es nur zum Putzen war. Irgendwas musste halt jeder tun, um sein Geld zu verdienen.
–
Als Henry am Donnerstagabend die Klingel der Familie Heinemann drückte, öffnete ihm Sibylle. Sie führte ihn ins Wohnzimmer. Das Bett war nun
Weitere Kostenlose Bücher