Sterbelaeuten
Volljährigwerden in Deutschland jetzt nicht mehr als verfolgt ansah. „Wenn sie dich abschieben, gehst du nach Belgrad“, hatte seine Mutter bestimmt. „Du bist dort geboren. Da ist es sicherer für dich. Mich schicken sie in den Kosovo, wo ich herkomme. Aber dahin gehe ich nicht zurück.“
„Warum fragst du?“
„War so eine Ahnung.“ Joska zuckte mit den Schultern. „Mit welchem Grund hättest du sonst überhaupt einen Antrag auf Asyl stellen sollen, in Deutschland?“ Er bog um eine Straßenecke und hielt den Wagen an. Dann öffnete er die Tür und nickte Maté aufmunternd zu. Sie stiegen aus. Sie waren auf einer Anhöhe am Rand der Siedlung. Joska ging ein paar Schritte dahin, wo die Straße endete und Maté folgte ihm. Sie sahen auf einen Abhang hinunter, so groß wie mehrere Fußballfelder. Der ganze Abhang war voll mit Müll und nur beim zweiten Hinsehen erkannte Maté die Hütten, die aus Pappe, Sperrholz und wer-weiß-was-noch zwischen den Müll und aus dem Müll selbst gebaut waren und sich zahllos über den Abhang erstreckten, Tausende. Jetzt sah Maté auch Menschen zwischen den Hütten gehen, Kinder laufen und spielen. Ein Gestank von Kot und Fäulnis kroch in seine Nase.
„Dort wohnen die Roma.“
Maté sah Joska an.
„Hast du Geld?“
„Nicht viel.“ Wollte Joska jetzt Geld von ihm? Wofür? Für die Fahrt?
„Wie viel?“
„Siebzig Euro?“ Eigentlich Hundertzwanzig, aber er wusste nicht, ob er Joska sagen sollte, wie viel er wirklich hatte. Er wusste ja gar nicht, worauf das hinauslaufen sollte.
Joska schüttelte den Kopf. „Dafür kannst du dir keine Hütte kaufen. Du musst fragen, ob du irgendwo dazuschlüpfen kannst, gegen Arbeit.“
Meinte Joska im Ernst, Maté sollte in diesem Hüttendorf wohnen? Maté war auf einmal schwindelig. Der Gestank wurde immer penetranter und ihm wurde übel.
„Oder du kommst mit mir.“
Maté sah Joska an. Blaue Augen, in denen Maté nicht lesen konnte, musterten ihn, als wollten sie in seinem Hirn lesen.
„Mit dir? Geht das?“ Dieser Joska konnte Jack the Ripper von Belgrad sein, aber Maté hatte das Gefühl, dass er schlimmstenfalls zwischen Pest und Cholera wählte, und mit ein bisschen Glück war Joska kein Mörder. Umsonst war das Angebot nicht, so viel war Maté klar. Dieses Land machte auf Maté nicht den Eindruck, dass es hier irgendetwas umsonst gab.
Joska ließ seinen Röntgenblick noch einen Moment auf Maté ruhen, als überlege er. „Wir werden sehen.“
Röhrig hätte in seinen billigen Behörden-Kunststoff-Tisch beißen können. Seine Kronen hielten ihn davon ab. Jede hatte mehr gekostet, als er netto im Monat verdiente. Die Akte der verstorbenen Frau Fromme war geschlossen, der Fall so kalt wie das Hühnchen in seiner Tiefkühltruhe, und jetzt fiel der Nichte ein, dass Schmuck fehlte. Goldene Ohrringe, eine Perlenkette, zwei Broschen, ein Diamantring. Röhrig beugte sich über Fotos, die die Nichte von Frau Fromme geschickt hatte, auf denen Frau Fromme mit gutem Willen erkennbar war, der Schmuck, den sie trug, aber kaum mit dem Mikroskop zu sehen.
Röhrig spürte die Versuchung, diese eiskalte Akte tief im Bermudadreieck seines Schreibtischs zu versenken und den Anruf der Nichte einfach zu ignorieren. Sie sei erst jetzt dazu gekommen, den Nachlass zu sichten. Na, wenn man sich das leisten konnte, ein halbes Jahr Miete für eine Wohnung zu zahlen, in der niemand mehr wohnte, konnte man wohl auch eine Perlenkette und ein paar Broschen verschmerzen. Allerdings, wenn dieser Schmuck wirklich existiert hatte und nun verschwunden war, hatte das viel weitreichendere Konsequenzen. Dann lief unter Umständen ein Mörder frei herum. Das nagte an Röhrigs Gewissen, so war er halt. Mochte Leddig sich über ihn lustig machen und die Kollegen in der Mordkommission. Ja, er war ehrgeizig. Aber er schielte nicht nur nach den Aufsehen erregenden Fällen, die für die Karriere gut waren. Er konnte keinen Mörder laufen lassen, der alte Damen meuchelte, um ihren Schmuck zu stehlen. In so einer Welt wollte er nicht leben. Aber vielleicht war es so ja auch nicht gewesen. Vielleicht hatte nur jemand die Gelegenheit ergriffen und den Schmuck mitgehen lassen. Er würde sich diesen Untermieter noch mal vorknöpfen müssen. Auch wenn der ein Alibi hatte, er hatte bei dem Opfer gelebt. Wenn irgendetwas Ungewöhnliches im Leben des Opfers passiert war, dann hätte er es beobachtet. Aber vorher musste Röhrig ihn erst mal finden.
–
„Okay. Legt
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