Sterbelaeuten
Augustinerklosters aufgenommen wurde. Für Katharina eröffnete sich mit der Musik eine Welt. Trotz der Beengtheit und der Entbehrungen in der sowjetischen Besatzungszone gehörten diese Erfurter Jahre von 1945 –1951 zu den schönsten in Katharina Heinemanns Leben, wie sie ihren Töchtern oft erzählte. 1951 erhielt Katharinas Vater durch die Hilfe eines ehemaligen Breslauer Kommilitonen eine Anstellung in einer Klinik in Frankfurt am Main und die Familie ging in den Westen.
Stephanie erhob sich und holte aus einem Regal ein Fotoalbum hervor, um Henry Bilder ihrer Mutter aus der Erfurter Zeit zu zeigen. „Gerade letzte Woche haben wir noch mal diese Fotos zusammen angesehen.“
Als sie das Album aufklappte, fiel ein Brief heraus. „Der war da aber noch nicht da“, wunderte sie sich. Stephanie hob den Brief auf und setzte sich zurück an den Tisch. Der Briefumschlag war zugeklebt und trug die Aufschrift: „Für Sibylle und Stephanie“.
„Das ist Mutters Schrift!“, sagte Stephanie. Die Schwestern wechselten einen Blick. Sibylle reichte Stephanie wortlos ein Messer aus der Schublade unter dem Esstisch. Stephanie nahm es und öffnete den Umschlag. Sie holte einen Brief hervor und begann vorzulesen:
Meine lieben Mädchen ,
nichts in meinem ganzen Leben – auch nicht die Musik – hat mir so viel Glück und Freude beschert wie Ihr, meine lieben Kinder. Ich danke dem Herrn, dass ich so viele gute Jahre mit Euch erleben durfte. Ich danke Euch, dass Ihr mir in meiner Krankheit so liebevoll beigestanden habt. Wenn Ihr diesen Brief in Händen haltet, ist meine Krankheitszeit überwunden. Es bleibt mir noch dieses: Ihr wisst, mein Vermögen ist überschaubar. Ich habe nachgedacht und bitte Euch, es so zwischen euch aufzuteilen: Du, meine liebe Stephanie, sollst das Haus erben. Sibylle soll das Recht haben, so lange in dem Haus zu wohnen, wie sie möchte. Du, meine liebe Sibylle, sollst den Flügel samt allen Noten erben. Gott segne Euch.
Eure Mutter ,
Katharina Maria Hilde Heinemann
Schweigen legte sich auf die Gesellschaft. Sibylle sah blass aus.
Christian räusperte sich: „Äh, das ist doch kein wirksames Testament oder was?“
Die Schwestern starrten ihn an.
„Ich meine, sag doch mal, Stephanie, es gibt doch so was wie den Pflichtteil, und so ein Flügel, also, das kann man doch nicht mit einem Haus gleichsetzen …“
„Halt den Mund!“, brach es aus Sibylle heraus.
„Was ist denn, ich will doch nur, dass deine Interessen gewahrt bleiben.“
Sibylle stand auf. „Ich muss jetzt allein sein. Bitte geh nach Hause.“ Sie stürmte an Henry vorbei und rannte aus dem Zimmer. Antoni murmelte etwas von „mehr Tee“ und verschwand.
Henry fluchte innerlich. Peinlich war das, in eine solche Familienszene hineinzugeraten. Stephanie saß da und starrte auf den Brief. „Er ist handschriftlich und eigenhändig unterschrieben“, flüsterte sie. „Datiert vom 30.11., also gerade vor einer guten Woche. Sie war bei klarem Verstand, als sie ihn geschrieben hat. Es ist tatsächlich ein Testament.“
Henry legte seine Hand auf ihren Arm. „Stephanie“, sagte er. „Ich glaube, ich gehe jetzt besser. Ihr braucht Zeit, das zu verdauen. Ruft mich an, dann besprechen wir das Nötige für die Trauerfeier.“
Stephanie nickte und blieb sitzen. Henry zögerte noch einen Moment und ging dann langsam aus dem Zimmer. Beim Hinausgehen hörte er, wie Christian zu Stephanie sagte: „Ich weiß nicht, was mit ihr los ist, ich wollte doch nur …“
„Halt endlich den Mund!“, wurde Christian abermals beschieden.
„Ich geh dann auch mal“, sagte er und stand auf. Henry und Christian traten nacheinander aus dem Haus. „Ich weiß nicht, was mit Sibylle los ist“, sagte Christian, während er den Reißverschluss seiner Jacke zuzog. „Ich gebe mir Mühe, bin für sie da und sie ist so abweisend. So kenne ich sie gar nicht.“
„Ihre Mutter ist gerade gestorben. Sie ist völlig durcheinander, sozusagen im Ausnahmezustand. Ich würde da nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.“ Man brauchte keine klinischseelsorgerliche Ausbildung, um zu ahnen, was mit Sibylle los war, fand Henry.
„Ja, das stimmt wohl.“ Die Jacke war bis zum Anschlag zugezogen, jetzt nestelte Christian an einem Stirnband, das er sich über die Ohren zog. „Gehen Sie in diese Richtung?“ Er wies in Richtung Ortskern. Henry nickte. „Gehen wir doch noch ein Stück zusammen“, schlug Christian vor.
Henry war übergangslos vom
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