Sterbelaeuten
euch aus dem Weg geht. Es belastet auch die Kinder und mich ...“ Unter Elisabeths Blick tröpfelten Henrys letzte Worte nach wie ein versiegendes Rinnsal.
„Und wie stellst du dir das vor?“ Elisabeth hatte das Buch zugeklappt und die Arme vor der Brust verschränkt.
„Ich weiß ja gar nicht richtig, worum es geht.“
„Eben! Es geht darum, dass Thomas mein Krippenspiel torpediert. Er hat sich einen Weihnachtsbaum aufschwatzen lassen, der für den Frankfurter Römer angemessen wäre, aber nicht für unsere Kirche. Und jetzt passen seine geliebten Krippenfiguren nicht mehr davor. Und deshalb will er den mickrigen Rest, der den Kindern als Bühne bleibt, mit den Holzköppen vollstellen.“
„Hm.“
„Ja: Hm. Jedenfalls habe ich ihm gesagt, das kann er sich abschminken. Da hätte er halt vorher mal mitdenken sollen. Oder wollt ihr kein Krippenspiel diese Weihnachten?“
„Doch, doch, natürlich wollen wir das Krippenspiel!“ Nicht, dass Elisabeth jetzt beleidigt das Handtuch warf. Nicht auszudenken, wenn sie das Krippenspiel bestreikte. So schnell würde er keinen Ersatz für sie finden. Und was würde er dann mit diesem Gottesdienst machen?
„Es ist der Höhepunkt des Heiligen Abends“, bekräftigte er sicherheitshalber.
„Siehst du. Und das kannst du ja Thomas mal begreiflich machen, dann können wir unseren kleinen Streit sicher beilegen. So, jetzt bin ich müde. Schlaf gut.“
Henry sah ihr nach. Irgendwie hatte er jetzt das Problem an der Backe. Offensichtlich war auch nur er für das große Ganze verantwortlich. In dieser Gemeinde engagierten sich zwar viele Menschen, aber wehe, das wurde nicht ausreichend gewürdigt. Dann zogen sie sich schmollend zurück und ließen ihn in dem Schlamassel sitzen. Aber dass Elisabeth sich jetzt auch so benahm, bedrückte ihn.
–
Mirko Löwe saß am Küchentisch seiner Hamburger Wohnung und wartete darauf, dass seine Tochter Meike vom Volleyball-Training nach Hause kam. Es war längst dunkel draußen, aber Mirko war nicht aufgestanden, um Licht zu machen. In der aufgeräumten modernen Küche leuchtete allein die Anzeige der Digitaluhr am Herd und in den Edelstahlfronten der Küchengeräte spiegelte sich das Licht der Straßenlaternen.
Mirko saß so da, seit Sibylle angerufen und ihm vom Tod seiner Schwiegermutter – seiner Ex-Schwiegermutter – berichtet hatte. Sibylle hatte einigermaßen gefasst geklungen. Der Pfarrer sei dabei gewesen, als Katharina starb, und die Ärztin. Immerhin habe sie zuhause sterben dürfen, das hatten sie alle gehofft.
Nachdem Sibylle aufgelegt hatte, war Mirko einfach so sitzengeblieben. Er fühlte sich aufgewühlt. Er versuchte zu erspüren, was er eigentlich empfand. Trauer? Ja. Katharina war eine gute Schwiegermutter gewesen. Sie hatte ihn herzlich aufgenommen, den Psychologie-Studenten, in den ihre Tochter so unsterblich verliebt gewesen war.
Auch als das Unvorstellbare passierte und Sibylle trotz der Kondome, die sie benutzt hatten, schwanger wurde, flippte Katharina nicht aus. Sie hatte Sibylle und ihm gut zugeredet. Ihr schafft das schon, hatte sie ihnen überzeugend versichert. Und das mit Meike hatten sie, wie er fand, auch so gut geschafft, wie Eltern es eben schaffen können, ihre Kinder großzuziehen.
Aber Sibylle und er, das war eine andere Sache. Das war irgendwo verloren gegangen, inmitten der schlaflosen Nächte, des Lernens für die Prüfungen, wann immer Meike schlief, der ersten Berufsjahre, des Aufbaus seiner Praxis ...
Also Trauer. Ja, aber nicht die Trauer um einen ganz nahen, sozusagen lebenswichtigen Menschen. Mehr eine nostalgische und mitfühlende Trauer. Mitgefühl. Er hatte das Bedürfnis, Sibylle jetzt beizustehen, sie zu trösten. Merkwürdig. So hatte er früher, als sie verheiratet waren, nie empfunden. Dieser Beschützerinstinkt war definitiv neu. Sibylles Lieblingsvorwurf war gewesen, dass er distanziert und gefühllos sei. Was nicht stimmte.
Sibylle: „Du analysierst immer alles zu Tode und dann sagst du mir, was das Problem ist und was ich jetzt machen soll, als ob das hier eine von deinen Verhaltenstherapiestunden ist. Statt dass du mich in den Arm nimmst und mitfühlst!“ Dazu war er wohl einfach nicht der Typ.
Um Meikes willen war immer klar gewesen, dass Mirko und Sibylle keinen „Rosenkrieg“ führen würden. Begegnungen waren schließlich unausweichlich. Meike besuchte ihre Mutter mehrmals im Jahr in den Ferien. Zu den größeren Anlässen in Meikes Leben wie Geburtstagen,
Weitere Kostenlose Bücher