Sterbelaeuten
wenn du einfach mal nett bist.“
„Ja, ja, na gut.“ Pawel holte eine Zigarette aus der Packung in seiner Hemdtasche und steckte sie in den Mund, ohne sie anzuzünden. „Aber nicht hier. Du steigst bei der Apotheke ein.“
Er wies in eine Richtung, die Alicja nichts sagte. Sie hatte in dieser Tiefgaragenschnecke völlig die Orientierung verloren. Sie mussten mitten unter der Stadt sein, so lang wie der Garagentunnel war. Aber sie erinnerte sich, dass es in der Nähe des Bahnhofs eine Apotheke gab, die an der Straße lag.
„Die, wo die Ärzte sind? Kurz vor der Fußgängerbrücke?“, fragte sie.
„Ja, ja. Da stehst du. Um fünf Uhr dreißig. Pünktlich! Und jetzt mach, dass du wieder an die Luft kommst. Das ist kein Ort für junge Frauen ohne Begleitung.“
Alicja lief den langen Gang zurück und die Auffahrt nach oben. Wie sie gehofft hatte, ließ sich das Fußgängertörchen von innen öffnen. Es fiel hinter ihr zu. Als sie probeweise versuchte, es von außen zu öffnen, blieb es verschlossen. Egal, sie musste ja nicht mehr hier runterkommen. Sie war jetzt richtig spät dran, aber es hatte sich gelohnt, Pawel hinterherzugehen. Sie würde ab jetzt eine Stunde pro Fahrt sparen und müsste nicht mehr frierend am Hauptbahnhof warten. Wenn er sie erst mal auf dem Hinweg mitnahm, würde sie auf dem Rückweg einfach im Bus sitzen bleiben.
Antoni war in seiner Wohnung, als Alicja wenige Minuten später hineinstürmte. Sie warf ihre Tasche in den Flur, zog die Schuhe aus. „Weißt du was!“, rief sie Antoni zu. Ihre Wangen waren rot und sie war außer Puste. „Ich kann ab jetzt von Schwalbach aus nach Hause fahren.“
„Wie denn das?“
„Pawel – so heißt der Busfahrer, komischer alter Kautz – parkt den Bus hier in Schwalbach, in einer Tiefgarage am Bahnhof. Ich habe ihn überredet, dass ich dort schon einsteigen darf.“
„Super.“
„Total super. Ich spare so viel Zeit.“ Alicja fuhr ein paar Mal mit der Bürste durch ihre Haare und machte sich einen Zopf. „Donnerstagabend bin ich übrigens früh zuhause.“ Sie nuschelte, zwei Haarklammern steckten in ihrem Mund, während sie den Zopf band. „Die Biermanns haben abgesagt.“
„Du könntest mit zum „lebendigen Adventskalender“ bei den Heinemanns kommen.“
„Was ist das denn?“ Alicja zog sich wieder ihre Schuhe an.
„An jedem Tag im Dezember bis Heiligabend kann man zu irgendwelchen Leuten aus der Kirchengemeinde gehen und die machen ein kleines Programm. Ein paar Lieder oder Gedichte, glaube ich. Und dann geht man wieder.“
„Wozu macht man das?“
„Ist halt so eine deutsche Sitte. Die Töchter von Frau Heinemann wollen jedenfalls musizieren und sie bieten Plätzchen an. Sie haben mich eingeladen. Wäre schön, wenn du mitkommst. Es dauert nur zehn Minuten. Sie sind richtig gut, es lohnt sich, ihnen zuzuhören. Dann könnten wir noch irgendwohin was trinken gehen.“
„Ist das nicht ein bisschen unpassend, so kurz nach dem Tod ihrer Mutter?“
„Sibylle wollte auch nicht. Aber es ist im Gemeindebrief angekündigt. Das kann man jetzt nicht mehr absagen. Stephanie sagt, es werden sowieso ein paar Leute kommen, und dann ist es leichter, die Sache durchzuziehen, als zu erklären, warum man es nicht macht.“
„Hm.“ Alicja knöpfte ihren Mantel zu. Die Deutschen hatten eine Gabe, sich selbst unter Druck zu setzten. Sie sah es immer wieder bei den Hausfrauen, für die sie putzte. Statt sich zu freuen, dass jemand die Arbeit machte, putzten viele mit, manche aus schlechtem Gewissen, manche weil sie sie kontrollieren wollten oder weil sie nicht „faul“ dasitzen konnten, während jemand in ihrem Haus arbeitete. Alicja war jetzt ausgehfertig. „Okay. Dann schauen wir uns mal einen deutschen Weihnachtsbrauch an. Ich muss jetzt rennen.“
„Renn lieber nicht. Ist glatt draußen.“
–
Pawel sah Alicja nach, wie sie die lange, von Garagen gesäumte Flucht entlang zum Ausgang lief. Sie hatte einen leicht wiegenden Schritt, dem Pawel gerne noch länger zugesehen hätte. Sie hätte auch die Treppe nach oben nehmen können, die hinter der Tür gleich neben Pawel lag, aber das hatte sie wohl nicht gewusst.
Ärgerlich, dass sie ihn hier gesehen hatte. Und das nach der verwechselten Tasche, letzte Woche in Krakau. Schöpfte sie denn keinen Verdacht? War sie wirklich so naiv oder in ihren eigenen Problemen gefangen? Oder war es ihr egal, Hauptsache, der Job war gut bezahlt? Pawel hustete und die Zigarette hüpfte an seinen
Weitere Kostenlose Bücher