Sterbelaeuten
Lippen auf und ab. Immerhin konnte er sie auf diese Weise im Auge behalten. Und wenn sie sich verdächtig benahm, hätte er Gelegenheiten, in denen sie allein mit ihm war. Die würde er vielleicht noch brauchen. Von der Abmachung, Alicja schon in Schwalbach einsteigen zu lassen, würde er dem Chef nichts erzählen. Das war sozusagen seine Privatsache. Aber die Verwechslung der Taschen würde er erwähnen. So was wollte der Chef wissen, und wie sagten die Deutschen? „Melden macht frei.“ Dann konnte der Chef sich drum kümmern und er, Pawel, hätte seine Schuldigkeit getan. Pawel schob das Garagentor herunter, das mit einem metallischen Klappern schloss.
–
Mirko schreckte hoch, als das Telefon klingelte. Die Uhr am DVD-Player zeigte 22.18 Uhr. Er musste beim Lesen auf dem Sofa eingenickt sein. Er sprang auf, um den Anruf noch entgegennehmen zu können.
„Hallo, hier ist Sibylle. Ich muss dir was Unglaubliches erzählen!“
Mirko setzte sich wieder aufs Sofa. Sibylle sprudelte förmlich über.
„Du meinst, es ist eine echte Luther-Handschrift?“, fragte er, „vielleicht sogar das Original?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Sibylle. „Aber heute habe ich in der Bibliothek die Luther-Handschrift von „Ein feste Burg ist unser Gott“ gegoogelt.“ Sie machte eine Pause.
„Und?“
„Na ja, ich bin ja keine Schriftexpertin, aber die Ähnlichkeit springt dir praktisch ins Auge. Dann habe ich noch ein bisschen recherchiert. Luther hat doch im Augustinerkloster in Erfurt gelebt. Da könnte es doch sein, dass die Handschrift nach seinem Tod in den Besitz des Klosters gekommen ist. Im Februar 1945 wurde das Augustinerkloster in Erfurt bei einem Luftangriff getroffen. Dabei wurde die Bibliothek völlig zerstört. Vielleicht ist die Handschrift dort verloren gegangen und in den Besitz der Gräfin gelangt. Meine Mutter war 1945 auch in Erfurt. Sie hat in der Kantorei des Augustinerklosters gesungen. Ich weiß allerdings nicht genau, ob sie schon im Februar 1945 dort gewesen ist.“
„Könnte alles sein“, meinte Mirko. „Aber wie ist die Handschrift dann in den Flügel geraten?“
„Der Flügel stammt doch aus dem Nachlass der Gräfin. Es ist der Flügel, auf dem meine Mutter Klavierspielen gelernt hat. Weil sie als Flüchtlingskind immer unter den Flügel gekrochen ist, wenn die Gräfin gespielt hat“, sagte Sibylle, „das hat sie dir doch auch erzählt.“
„Du meinst, die Gräfin hat die Handschrift dort versteckt und deine Mutter wusste das?“
„Jedenfalls wollte sie den Flügel unbedingt haben. Vielleicht nicht nur aus reiner Nostalgie.“
„Aber warum hat sie euch nie etwas erzählt?“, wunderte sich Mirko.
„Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit.“
„Vielleicht war sie nicht sicher, wie die Handschrift in den Besitz der Gräfin gekommen ist“, schlug Mirko vor.
„Kann sein“, antwortete Sibylle, „vielleicht traute sie sich nicht, die Handschrift prüfen zu lassen oder zu verkaufen.“
„Aber was nützt sie einem, wenn man sie nicht stolz besitzen oder gewinnbringend verkaufen kann?“, fragte Mirko.
Sibylle überlegte. „Weißt du, meine Mutter war zwar noch ein Kind bei der Flucht aus Schlesien. Aber das Erlebnis hat sie stark geprägt. Sie hat immer dafür gesorgt, dass wir alle gültige Pässe hatten. Sie hatte immer das Bedürfnis, vorbereitet zu sein, für den Fall, dass man plötzlich wegmuss.“
„Aber was hat das mit der Handschrift zu tun?“
„Vielleicht dachte Mutter, die Handschrift könnte sie im Fall der Fälle mitnehmen und zu Geld machen, wenn es mal nötig sein sollte, wenn ihr mal nichts anderes übrig bliebe. In guten Zeiten dagegen war es ihr vielleicht zu riskant.“
„Das könnte sein. Was machst du jetzt mit ihr?“
„Ich weiß noch nicht.“ Sibylle seufzte. „Ich musste das einfach erst mal loswerden. – Mirko?“, setzte sie erneut an.
„Ja?“
„Es war schön, dass ihr da wart.“
„Ja, das fand ich auch.“ Auf einen spontanen Impuls hin fragte er: „Sibylle, willst du nicht an Weihnachten zu uns kommen?“
Die Frage hing in der Luft und schwer wie Gewichte hingen an ihr die Konsequenzen und Implikationen einer gemeinsamen Familien-Weihnachtsfeier.
„Oh“, sagte Sibylle daher auch nur. „Mirko. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob ... Ich muss überlegen. Ich weiß nicht, ob ich Stephanie ausgerechnet jetzt an Weihnachten allein lassen kann. Obwohl. Ach, Mirko, ich weiß noch nicht. Danke für die Einladung. Ich
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