Sterbelaeuten
Sibylle hatte wohl nicht die Kraft und die Nerven gehabt, sich an dieser Adventsaktion zu beteiligen. Alicja stieß ihn an.
„Mein Chef ist hier!“ Sie flüsterte auf Polnisch. „Da vorne, der Mann in dem kurzen Mantel. Siehst du ihn? Guck unauffällig!“
Antoni reckte möglichst unauffällig den Hals und sah einen Mann in einem schwarzen Lederkurzmantel mit einer älteren Dame reden. Alicja duckte sich hinter ihren Vordermann. Als Stephanie begann, Plätzchen herumzureichen, zog Alicja an Antonis Ärmel.
„Komm, lass uns gehen. Ich brauche den Chef nicht am Feierabend zu treffen.“
„Lass mich wenigstens Stephanie auf Wiedersehen sagen.“
„Okay, aber ich gehe schon langsam vor.“ Alicja wies mit dem Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Antoni nickte, weil ihm nichts anderes übrig blieb, aber er wunderte sich. Erst war dieser neue Job so toll und wunderbar, aber jetzt konnte sie es nicht aushalten, dem Chef die Hand zu geben, wenn sie ihn zufällig traf. Er war eigentlich ganz erleichtert, dass Alicjas neuer Chef anscheinend in einer der beiden Kirchengemeinden engagiert war. Irgendwie schien alles um diesen Job ein bisschen zu gut, um wahr zu sein, und Antoni hatte sich unter Alicjas Boss einen windigen Typen vorgestellt. Aber dieser Mann war offenbar ein respektiertes Mitglied der Gemeinde, so dass Antoni sich keine Sorgen um Alicja machen musste.
Alicja drehte der Gruppe den Rücken zu und ging mit langsamen Schritten fort. Sie hatte die ganze Woche das Gefühl gehabt, dass der Chef sie beobachtete. Wenn sie vom Putzen aufsah, stand er plötzlich in einer Ecke und sah sie mit seinen kalten Augen an. Sie arbeitete genauso gut wie letzte Woche auch, noch gründlicher unter seinem Blick, wenn das überhaupt ging. Wenn er sie auf dem Kieker hatte, lag es sicher nicht an ihrer Arbeit. Aber dann konnten es eigentlich nur zwei Dinge sein. Entweder er hatte mitbekommen, dass sie Pawel in die Tiefgarage gefolgt war und ihn überredet hatte, sie von Schwalbach aus mitfahren zu lassen, und das passte ihm nicht. Aber das hätte er ihr sagen können. Oder aber, Pawel hatte ihm von der Verwechslung der Tasche erzählt. Und wenn es das war, was ihr diese Aufmerksamkeit einbrachte, konnte es nichts Gutes bedeuten.
Sie biss sich auf die Lippen. Jetzt hatte sie so einen guten Job gefunden und schon wieder gab es einen Haken. Antoni hatte sie nichts vom Inhalt der falschen Tasche erzählt. Er wäre sicher alarmiert. Alicja hoffte, dass Josef ihn nicht anrief und ihm davon erzählte. Als die Kinder am Freitag im Bett gewesen waren, hatte er sie regelrecht verhört. Warum die Tasche voller Druckerpatronen gewesen sei. Wie sich das lohnen konnte, die Putzfrauen im Bus zu chauffieren. Ob sie sicher war, dass sie nicht in Wahrheit für einen Verbrecher arbeitete. Ihre ganze Wiedersehensfreude und die Freude über die neue Stereoanlage, hatte er mit seinen misstrauischen Fragen zerstört. Es war klar, dass er einen weiteren Grund gefunden hatte, ihr den Job auszureden. Eigentlich würde sie Antoni gerne um Rat fragen. Aber sie fürchtete, dass er nur ins gleiche Horn stoßen würde wie Josef.
–
Stephanie trat am Morgen vor das Haus. Es schneite dichte Flocken. Sie hätte mit der S-Bahn fahren sollen, stellte sie fest. Aber da hätte sie früher aufstehen müssen, jetzt war es zu spät. Wenn sie auch nur eine Chance haben wollte, heute pünktlich zu ihrem 9.00-Uhr-Termin zu kommen, musste sie Auto fahren. Sie kratzte im Schnelldurchgang die Scheiben halbwegs frei und hoffte, die Heizung würde den Rest erledigen. Dann stieg sie in den Golf, schaltete Heizung und Lüftung auf volle Leistung und betätigte den Scheibenwischer. Vorsichtig fuhr sie aus der Parklücke und machte sich auf den Weg.
Sibylle hatte noch geschlafen, als Stephanie aufstand und frühstückte. Heute Mittag wollte sie zu einer Fortbildung in Amorbach fahren. Stephanie würde sie also frühestens am Samstagabend sehen. Sie mussten unbedingt reden. Es tat Stephanie weh, von Sibylle die kalte Schulter gezeigt zu bekommen.
Als sie auf die Hauptstraße stieß, wo sie rechts abbiegen wollte, musste sie halten, um auf eine Lücke im Verkehr zu warten. Da krachte es laut. Stephanie flog mit Wucht in ihren Gurt und wieder zurück. Sie fluchte und sah in den Rückspiegel. Ein schwarzer Volvo steckte in ihrem Kofferraum. Sie seufzte tief, schrieb gedanklich den 9.00-Uhr-Termin ab und stieg aus dem Auto.
Aus dem Volvo stieg ein Mann mit
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