Sterbelaeuten
verkraftet. Da hat er Hals über Kopf seine Sachen gepackt und war weg. Der arme Junge. Der Dekan hatte dann zwei Wochen später die Kündigung in der Post.“
Nach der kühlen Kirche wurde Sibylle in dem geheizten Gemeindesaal heiß. Sie öffnete die Knöpfe ihres Mantels.
„Und jetzt ist er bei Ihnen?“ Die Schwalbe sah Sibylle prüfend von oben bis unten an, wie um zu erkunden, ob diese der Ehre würdig sei. Anscheinend bestand Sibylle die Prüfung, denn die Schwalbe fuhr fort: „Ach bitte, tun Sie mir einen Gefallen! Ich will ihm wenigstens etwas mitgeben, wo wir ihn doch nicht gescheit verabschieden konnten. Warten Sie, ich hole es geschwind.“
Sie eilte in die angrenzende Küche und kam kurz darauf mit einem in Alufolie verpackten Laib zurück. „Das ist mein Spezialstollen“, verriet sie Sibylle stolz. „Bitte geben Sie den dem Herrn Torat mit ganz lieben Grüßen von der Bärbel Meisheimer, da weiß er schon Bescheid.“ Sie legte den Stollen vorsichtig in eine Plastiktüte und reichte Sibylle die Tüte. Sibylle war es, als sähe sie Tränen in Frau Meisheimers Augen aufwallen. Wohl oder übel nahm sie die Tüte entgegen.
Frau Meisheimer verschwand wieder in der Küche, vielleicht, um ihrer Rührung Herr zu werden. Eine der anderen Kaffee-Frauen beugte sich über das Buffet zu Sibylle. „Also, wenn Sie mich fragen, der war ein rechtes Schlitzohr, der Herr Kantor. Und dass er vor Trauer um die Ursel hier fort ist, das glaub ich nicht. Die Nichte von der Ursel hat nachher sogar behauptet, es hätte kostbarer Schmuck von der Ursel gefehlt, so ein wertvolles Collier und eine Brosche oder so. Na ja, beweisen hat man nix können“, schloss die Frau schnell, als Frau Meisheimer wieder aus der Küche kam, und nickte Sibylle nur noch vielsagend zu.
Sibylle schwirrte der Kopf. Sollte da wirklich etwas dran sein, und Torat war ein, ein – ja was denn eigentlich? Sibylle schob diese Gedanken entschlossen aus ihrem Kopf. Es wurde immer viel geschwätzt in den Gemeinden. Man durfte gar nicht anfangen, darauf zu hören. Immerhin erzählen wir Sulzbacher unseren Tratsch nicht gleich jedem dahergelaufenen Besucher, dachte sie.
Sibylle trank den letzten Schluck Kaffee, knöpfte ihren Mantel wieder zu und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Nicolas de Grigny, der nach der Pause auf dem Programm stand. Jeder Teilnehmer war aufgefordert gewesen, ein Orgelstück der Epoche vorzubereiten. Sie hatte sich den „Dialogue sur les Grands Jeux“ aus dem „Veni Creator“ vorgenommen. Hierfür war jetzt ihre gesamte Konzentration vonnöten.
–
Elisabeth stand vor dem Spiegel im Badezimmer und zupfte sich die Locken zurecht. Bei einem roten lockigen Pagenschnitt gab es nicht viel zu frisieren, allenfalls ein Tropfen Haargel, in die Spitzen verteilt, das musste reichen. Auch mit Make up war bei der sommersprossigen Haut einer Rothaarigen nicht viel zu wollen, es sah immer angemalt aus. Also ein bisschen Puder, die Wimpern getuscht und etwas Lippenstift. „Besser wird’s nicht“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Dann lief sie nach unten und küsste Henry zum Abschied, der im Trainingsanzug auf Miriam wartete, die Marlene hüten wollte. Henry und Thomas hatten Handball-Training. Samuel übernachtete bei einem Freund.
Draußen war es mächtig kalt. Elisabeth ließ trotzdem das Auto stehen. Sie müsste es erst frei kratzen und außerdem wollte sie ein paar Gläser Rotwein trinken. Schließlich war sie unterwegs zum traditionellen Weihnachtsessen mit ihrer Freundin Anke. Sie zog den Schal etwas enger und stapfte durch den verschneiten Hof. Die Bürgersteige waren zwar weitgehend geräumt, aber überall lag noch genug Schnee, dass der Ort auch in der Dunkelheit freundlich und schön wirkte. Weihnachtlich, dachte Elisabeth.
Nach gut zwanzig Minuten erreichte sie den Italiener, in dem sie sich mit Anke treffen wollte. Als sie durch die Tür ging, kam ihr ein Mann entgegen. Er sah auf und Elisabeth erkannte die hellblauen Augen sofort. Es war dieser Jakob Clausen vom Weihnachtsmarkt, der neulich plötzlich beim Kirchenkaffee aufgetaucht und mit Torat weggegangen war. Elisabeth wurde sich bewusst, dass sie ihn anstarrte und zwang sich zu einem Lächeln. Auch der Mann hielt kurz inne, sah sie an und verzog der Mund zu einem Lächeln, dann ging er an ihr vorbei nach draußen.
Anke saß schon an einem Tisch am Fenster und schaute finsterer drein, als es ein Treffen unter besten Freundinnen erwarten ließ. Hoffentlich hatte sie
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