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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Gefühlen bewusst, da die Zeit in Kristiansand für mich stehen geblieben war, als ich das Gymnasium abschloss und für immer fortging.
    Die Fliege, die seit unserem Eintreten am Fenster gesurrt hatte, nahm plötzlich Kurs ins Zimmer. Meine Augen folgten ihr, als sie unter der Decke mehrmals im Kreis schwirrte, sich auf der gelben Wand niederließ, wieder abhob und uns in einem kleinen Bogen umkreiste und anschließend auf der Armlehne landete, auf der Yngves Finger nicht trommelten. Die vorderen Beine rieben sich aneinander, als würde die Fliege etwas abbürsten, bis sie ein paar Schritte vorwärts machte, gefolgt von einem kleinen Sprung in die Luft, mit sirrenden Flügeln, und auf dem Rücken von Yngves Hand landete, der diese natürlich mit einem kurzen Ruck anhob, so dass die Fliege erneut ihre Flügel bewegte und vor uns in fast gequält wirkender Manier auf und ab flog. Am Ende ließ sie sich erneut am Fenster nieder, wo sie in verwirrten Bahnen auf und ab krabbelte.
    »Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen, wie er beerdigt werden soll«, sagte Yngve. »Hast du dir Gedanken darüber gemacht?«
    »Du meinst, ob es eine kirchliche Beerdigung sein soll oder nicht?«
    »Zum Beispiel.«
    »Nein, daran habe ich noch keinen Gedanken verschwendet. Meinst du, das müssen wir jetzt schon entscheiden?«
    »Wahrscheinlich nicht. Aber bald, könnte ich mir vorstellen.«
    Ich sah flüchtig den jungen Mann im Anzug an, als er erneut an der halboffenen Tür vorbeikam. Mir kam der Gedanke, dass sie hier womöglich Leichen aufbewahrten. Dass sie die Toten hierher brachten, um sie zurechtzumachen. Wo sollten sie es sonst tun?
    Als hätte jemand in den hinteren Räumen meine Aufmerksamkeit wahrgenommen, wurde die Tür geschlossen. Und als wären die Bewegungen der Türen über ein geheimes System miteinander verbunden, öffnete sich direkt gegenüber von uns im selben Augenblick eine andere. Ein beleibter Mann von etwa fünfundsechzig Jahren, untadelig gekleidet, in einem dunklen Anzug und einem weißen Hemd, trat einen Schritt vor und sah uns an.
    »Knausgård?«, sagte er.
    Wir nickten und standen auf. Er stellte sich vor und gab uns die Hand.
    »Kommen Sie bitte mit«, sagte er.
    Wir folgten ihm in ein Büro, das verhältnismäßig groß war und Fenster zur Straße hatte. Er bat uns, vor einem Schreibtisch Platz zu nehmen. Die Stühle waren aus dunklem Holz, mit Sitzen aus schwarzem Leder. Der Schreibtisch, hinter dem er Platz nahm, war tief und ebenfalls dunkel. Links vor ihm waren mehrere Briefkörbe übereinandergestapelt, daneben stand ein Telefon, ansonsten war die Schreibfläche leer.
    Nein, nicht ganz, denn auf unserer Seite, ganz am Rand, stand eine Schachtel mit Kleenex-Tüchern. Oh, das war sicher praktisch, aber es wirkte auch ungeheuer zynisch! Schaute man sie an, sah man auch all die Menschen, die im Laufe eines Tages hierher kamen und weinten, und man begriff, dass die eigene Trauer nichts Einmaliges, nichts Unverwechselbares war und damit auch nicht sonderlich wertvoll. Die Kleenex-Schachtel war ein Zeichen dafür, dass hier eine Inflation von Tränen und Tod herrschte.
    Er sah uns an.
    »Womit kann ich Ihnen dienen?«, sagte er.
    Die Hautfalte unter seinem Kinn stülpte sich sonnengebräunt über den weißen Hemdkragen. Seine Haare waren grau und sorgsam gekämmt. Dunkle Schatten lagen auf Wange und Kinn. Die schwarze Krawatte hing nicht herab, sondern lag auf dem schwellenden Bogen seines Bauchs. Er war dick, aber auch straff, hatte nichts Schwammiges, korrekt war wohl das treffende Wort und damit auch selbstsicher und gelassen. Ich mochte ihn.
    »Unser Vater ist gestern gestorben«, sagte Yngve. »Wir haben uns gefragt, nun ja, ob Sie sich um alles Praktische kümmern könnten. Die Beerdigung und so weiter.«
    »Selbstverständlich«, sagte der Bestatter. »Dann werde ich mal als Erstes ein Formular ausfüllen.«
    Er zog eine Schreibtischschublade auf und holte ein Blatt heraus.
    »Wir haben Sie beauftragt, als unser Großvater gestorben ist. Und haben nur gute Erfahrungen gemacht«, erklärte Yngve.
    »Daran erinnere ich mich«, erwiderte der Bestatter. »Er war Wirtschaftsprüfer, nicht wahr? Ich kannte ihn.«
    Er griff nach einem Stift, der neben dem Telefon gelegen hatte, hob den Kopf und sah uns an.
    »Ich benötige einige Informationen von Ihnen«, sagte er. »Wie hieß Ihr Vater?«
    Ich nannte seinen Namen. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Nicht weil er tot war, sondern weil ich ihn so viele

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