Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
Vom Netzwerk:
dass Yngve nun das Gleiche machte, schob die Tränen direkt an den Rand des Bewusstseins, wo nur ein gedanklicher Ruck sie daran hinderte, erneut zu fließen.
    Als wir auf den kurzen Anstieg hinaufkamen, hoben zwei große Möwen von der Treppe ab. Der Platz vor dem Garagentor stand voller Müllsäcke und Mülltüten, mit denen die Möwen beschäftigt gewesen waren, auf der Suche nach etwas Essbarem hatten sie eine Menge Plastikzeug herausgerissen und überall verstreut.
    Yngve schaltete den Motor aus, blieb aber sitzen. Ich blieb ebenfalls sitzen. Der Garten vor dem Haus war komplett zugewachsen. Das Gras stand kniehoch wie auf einer Heuwiese, war von graugelber Farbe und an manchen Stellen vom Regen plattgedrückt. Es breitete sich überall aus, bedeckte alle Beete, deren Blumen mir niemals aufgefallen wären, wenn ich nicht gewusst hätte, wo sie standen, denn sie ließen sich nur hier und da als kleine Farbtupfer erahnen. Eine verrostete Schubkarre lag umgekippt neben der Hecke und schien in die Wildnis hineingewuchert zu sein. Die Erde unter den Bäumen war bräunlich von verfaulten Birnen und Pflaumen. Überall wuchs Löwenzahn, und ich sah, dass an manchen Stellen auch kleine Bäume sprossen. Es kam mir vor, als hätten wir an einer Lichtung im Wald und nicht vor einem Haus mitten in Kristiansand Halt gemacht.
    Ich lehnte mich ein wenig vor und blickte zum Haus hinauf. Die Fensterbretter waren morsch und die Farbe an manchen Stellen abgeblättert, aber ansonsten sah man dem Haus den Verfall nicht wirklich an.
    Einzelne Regentropfen klatschten auf die Windschutzscheibe. Weitere klopften leise auf das Autodach und die Motorhaube.
    »Gunnar ist jedenfalls nicht hier«, meinte Yngve und löste den Sicherheitsgurt, »aber er kommt sicher bald.«
    »Wahrscheinlich arbeitet er noch«, sagte ich.
    »Auch wenn es in den Betriebsferien oft regnet, arbeiten Wirtschaftsprüfer deshalb noch lange nicht«, bemerkte Yngve trocken. Er zog den Autoschlüssel heraus und steckte den Schlüsselbund in die Jackentasche, öffnete die Tür und stieg aus.
    Am liebsten wäre ich sitzen geblieben, aber das ging natürlich nicht, so dass ich seinem Beispiel folgte, die Tür zuschlug und zum Küchenfenster in der ersten Etage hochsah, wo uns bei unserer Ankunft früher immer Großmutters Blick begegnet war.
    An diesem Tag nicht.
    »Ich hoffe, die Tür ist offen«, sagte Yngve und stieg die sechs Stufen der Treppe hinauf, die einmal dunkelrot lackiert gewesen, jetzt aber nur noch grau war. Die beiden Möwen hatten sich auf das Dach des Nachbarhauses gesetzt und verfolgten aufmerksam unsere Bewegungen.
    Yngve drückte die Klinke hinunter und schob die Tür auf.
    »Oh, verdammt«, sagte er.
    Ich stieg die Treppe hinauf, und als ich ebenfalls durch die Tür trat und in den Eingangsflur kam, musste ich den Kopf wegdrehen. Der Geruch war unerträglich. Es stank nach Fäulnis und Urin.
    Yngve stand im Flur und schaute sich um. Der blaue Teppichboden war übersät von dunklen Flecken und Abdrücken. Der offene Einbauschrank war voller Flaschen und Tüten mit Flaschen. Überall lagen Kleider herum. Weitere Flaschen, Kleiderbügel, Schuhe, ungeöffnete Briefe, Reklame und Plastiktüten lagen auf dem Fußboden verstreut.
    Doch am schlimmsten war der Gestank.
    Was zum Teufel konnte nur derartig stinken?
    »Er hat alles verwüstet«, sagte Yngve und schüttelte langsam den Kopf.
    »Was stinkt denn hier so ekelhaft?«, sagte ich. »Verfault hier irgendwo was?«
    »Komm schon«, erwiderte er und ging zur Treppe. »Großmutter erwartet uns.«
    Auf halbem Weg die Treppe hinauf standen leere Flaschen auf den Stufen, etwa fünf oder sechs auf jeder, aber je näher wir dem Treppenabsatz in der ersten Etage kamen, desto mehr wurden es. Der Absatz selbst war vor der Tür fast vollständig mit Flaschen und Tüten voller Flaschen zugestellt, und auf der Treppe, die in die zweite Etage hinaufführte, in der früher das Schlafzimmer meiner Großeltern gelegen hatte, war abgesehen von zehn Zentimetern in der Mitte, auf die man den Fuß setzen konnte, alles voll. Es handelte sich größtenteils um Eineinhalbliter-Bier- und Wodkaflaschen, aber es war auch die eine oder andere Weinflasche dabei.
    Yngve öffnete die Tür, und wir gingen ins Wohnzimmer. Auf dem Klavier standen Flaschen, und unter ihm lagen mit Flaschen gefüllte Tüten. Die Tür zur Küche war offen. Dort saß sie eigentlich immer, so auch an diesem Tag, am Küchentisch, den Blick auf die Tischplatte

Weitere Kostenlose Bücher