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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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gerichtet und eine qualmende Zigarette in der Hand.
    »Hallo«, sagte Yngve.
    Sie blickte auf. Anfangs deutete in ihren Augen nichts darauf hin, dass sie uns erkannte, aber dann blitzte es in ihnen auf.
    » Ihr seid das, Jungs! Ich habe doch gleich gedacht, dass da jemand an der Tür ist.«
    Ich schluckte. Ihre Augen lagen tief in den Augenhöhlen, die Nase ragte vor und ähnelte in dem hageren Gesicht am ehesten einem Schnabel. Die Haut war weiß und faltig.
    »Als wir gehört haben, was passiert ist, haben wir uns gleich auf den Weg gemacht«, erklärte Yngve.
    »Ja, oh, es war furchtbar«, sagte Großmutter. »Aber jetzt seid ihr ja da. Das ist gut!«
    Ihr Kleid war voller Flecken und hing lose um ihren schrecklich mageren Körper. Auf dem obersten Teil der Brust, den das Kleid eigentlich bedecken sollte, lagen die Rippen wie Stäbe unter der Haut. Schulterblätter und Hüftkämme stachen heraus. Ihre Arme waren nur noch Haut und Knochen. Über die Handrücken liefen die Adern wie kleine dunkelblaue Kabel.
    Sie stank nach Urin.
    »Wollt ihr eine Tasse Kaffee?«, sagte sie.
    »Danke, gern«, antwortete Yngve. »Das wäre vielleicht gar keine schlechte Idee. Aber wir können ihn selbst aufsetzen. Wo ist der Kaffeekessel?«
    »Wenn ich das nur wüsste«, sagte Großmutter und schaute sich um.
    »Da drüben steht er«, sagte ich und zeigte auf den Tisch. Neben ihr lag ein Zettel, und ich neigte den Kopf ein wenig, um lesen zu können, was darauf stand.
    DIE JUNGS KOMMEN GEGEN ZWÖLF. ICH KOMME UM EINS. GUNNAR.
    Yngve nahm den Kaffeekessel und ging zur Spüle, um den Kaffeesatz wegzuschütten. Stapel verdreckter Teller und Gläser standen darin. Auf der gesamten Arbeitsplatte lagen Verpackungen, vor allem für Mikrowellenfertiggerichte, und viele von ihnen waren noch voller Essensreste. Zwischen ihnen standen Flaschen, größtenteils die gleichen Eineinhalbliterflaschen aus Plastik, manche mit einem Rest am Boden, manche halb voll, manche ungeöffnet, aber auch Schnapsflaschen, der billigste Wodka aus dem Monopol, ein paar kleine Upper- Ten-Whiskyflaschen. Überall lagen eingetrockneter Kaffeesatz, Krümel, eingetrocknete Essensreste. Yngve schob einen der Verpackungsstapel zur Seite, hob ein paar Teller hoch und stellte sie auf die Arbeitsplatte, ehe er den Kaffeesatz aus dem Kessel ausspülte und ihn mit Wasser füllte.
    Großmutter blieb sitzen, den Blick auf den Tisch vor sich gerichtet und die Zigarette, inzwischen erloschen, in der Hand.
    »Wo verwahrst du den Kaffee?«, sagte Yngve. »Im Schrank?«
    Sie schaute auf.
    »Was?«, sagte sie.
    »Wo verwahrst du den Kaffee?«, wiederholte Yngve.
    »Ich weiß nicht, wo er ihn hingestellt hat«, sagte sie.
    Er? War damit Vater gemeint?
    Ich wandte mich um und ging ins Wohnzimmer. Solange ich denken konnte, war es nur an Feiertagen und zu besonderen Anlässen benutzt worden. Jetzt stand Vaters großer Fernsehapparat mitten im Zimmer auf dem Fußboden, und zwei der großen Ledersessel waren vor ihn gezogen worden. Ein kleiner Tisch voller Flaschen, Gläser, Tabakbeutel und überfüllter Aschenbecher stand zwischen ihnen. Ich ging daran vorbei und warf einen Blick in den hinteren Teil des Wohnzimmers.
    Vor der Couchgarnitur an der Wand lagen Kleider. Zwei Hosen und eine Jacke, ein paar Unterhosen und Socken sah ich. Es roch fürchterlich. Außerdem lagen dort umgekippte Flaschen, Tabakbeutel, ein paar trockene Brötchen und anderer Müll. Langsam ging ich weiter. Auf der Couch war Kot, teils verschmiert und teils in Klumpen. Ich beugte mich über die Kleider. Sie waren ebenfalls voller Kot. Auf dem Fußboden war der Lack an manchen Stellen in großen, unregelmäßigen Flecken weggeätzt worden.
    Von Pisse?
    Ich hatte das Bedürfnis, etwas kaputtzuschlagen. Den Tisch hochzuheben und gegen das Fenster zu werfen. Das Regal herunterzureißen. Aber ich war so schwach, ich schaffte es gerade einmal, zum Fenster zu gehen. Ich lehnte die Stirn dagegen und sah in den Garten hinunter. Von den Gartenmöbeln, die dort umgekippt lagen, war der Lack fast vollständig abgeblättert. Es sah aus, als wüchsen sie aus der Erde.
    »Karl Ove?«, sagte Yngve vom Türrahmen her.
    Ich drehte mich um und ging zurück.
    »Da drinnen sieht es zum Kotzen aus«, sagte ich leise, damit sie es nicht hörte.
    Er nickte.
    »Wir setzen uns ein bisschen zu ihr«, sagte er.
    »Okay.«
    Ich ging in die Küche, zog den Stuhl ihr gegenüber heraus und setzte mich. Ein Ticken war zu hören, das von einem

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