Sterben: Roman (German Edition)
ich nur mitmachen durfte, weil ich Yngves Bruder war, denn ich war wirklich ein erbärmlicher Schlagzeuger. Im Alter von vierundzwanzig Jahren erkannte ich plötzlich, dass dies mein Leben war, dass es tatsächlich so aussah und wahrscheinlich immer so aussehen würde. Dass die Studienzeit, jene sagenumwobene und vielbesungene Phase im Leben, auf die man später stets mit Freude zurückblickte, für mich nichts anderes war als eine Reihe trostloser, einsamer und unvollkommener Tage. Dass ich das nicht früher einsah, lag an der Hoffnung, die immer ein Teil von mir gewesen war, an all diesen lächerlichen Träumen, die ein Zwanzigjähriger so häufig hegt, von Frauen und Liebe, von Freunden und Freude, von heimlicher Begabung und einem plötzlichen Durchbruch. Als ich vierundzwanzig war, sah ich jedoch, wie es war. Und es war okay, auch ich hatte meine kleinen Freuden, so war es nicht, und was an Einsamkeit und Erniedrigung auf mich zukommen würde, ließ sich aushalten, es gibt keinen Grund in mir, dachte ich manchmal, ich nehme das an, ich bin ein Brunnen, ich bin der Brunnen des Gescheiterten, des Erbärmlichen, Elenden, Jämmerlichen, Peinlichen, Freudlosen und Schmählichen. Kommt her damit! Pisst in mich hinein! Scheißt ruhig auch noch, wenn euch danach ist! Ich nehme das an! Ich stehe es durch! Ich bin das Stehvermögen persönlich! Dass es dies gewesen sein muss, was die Mädchen, denen ich mich zu nähern versuchte, in meinen Augen sahen, habe ich nie bezweifelt. Zu viel Wille, zu wenig Hoffnung. Während Yngve in dieser ganzen Zeit seine Freunde, sein Studium, seine Arbeit und seine Band, ganz zu schweigen von seinen Freundinnen, gehabt hatte und alles bekam, was er wollte.
Was hatte er, was ich nicht hatte? Wie kam es, dass sie mit ihm gingen, während die jungen Frauen, mit denen ich sprach, entweder entsetzt oder höhnisch zu reagieren schienen? Unabhängig davon, wie es sich damit verhielt, blieb ich in seiner Nähe. Der einzige gute Freund, den ich in diesen Jahren fand, war Espen, der ein Jahr nach mir die Akademie für Schreibkunst besucht hatte und den ich während des Grundstudiums der Literaturwissenschaft kennen lernte, als er mich bat, mir einige seiner Gedichte anzusehen. Ich verstand nichts von Lyrik, aber ich sah sie mir an und erzählte irgendein Wischiwaschi, das er nicht durchschaute, und von da an wurden wir nach und nach Freunde. Espen war der Typ Mensch, der schon auf dem Gymnasium Beckett las, Jazz hörte und Schach spielte, der die Haare lang trug und nervös und ängstlich veranlagt war. In Gruppen, die aus mehr als zwei Personen bestanden, war er verschlossen, intellektuell jedoch offen, und im zweiten Jahr unserer Freundschaft debütierte er mit einer Gedichtsammlung, was mich durchaus neidisch machte. Yngve und Espen verkörperten zwei Seiten meines Lebens und konnten bezeichnenderweise nichts miteinander anfangen.
Espen ahnte wahrscheinlich nichts davon, da ich immer so tat, als würde ich fast alles kennen, aber er war es, der mich in die Welt der hohen Literatur hinaufzog, in der man Essays über eine Zeile bei Dante schrieb, in denen nichts kompliziert genug sein konnte, in der die Kunst in Kontakt zum Höchsten stand, nicht im Sinne des Erhabenen, denn wir hielten uns an den Kanon der Moderne, sondern des Enigmatischen, am besten illustriert in Blanchots Beschreibung von Orpheus’ Blick, der Nacht der Nacht, der Negation der Negationen, was zugegeben ein ganzes Stück über den trivialen und in vieler Hinsicht schäbigen Leben lag, die wir selber führten, aber damals lernte ich, dass auch unsere lächerlichen, kleinen Lebensläufe, in denen wir absolut nichts von dem bekommen konnten, was wir haben wollten, wirklich nichts, in denen alles außerhalb unserer Fähigkeiten und Macht stand, teil an dieser Welt hatte und damit auch am Höchsten, denn die Bücher existierten, man brauchte sie nur zu lesen, niemand außer mir selbst konnte mich von ihnen ausschließen. Es galt nur, sich zu ihnen aufzuschwingen.
Die Literatur der Moderne mit ihrer riesigen, brachliegenden Maschinerie war ein Werkzeug, eine Erkenntnisform, und wenn man sich in sie eingearbeitet hatte, konnten die Einsichten, die sie vermittelte, verworfen werden, ohne dass das Wesentliche an ihr verloren ging, die Form blieb bestehen und ließ sich daraufhin dem eigenen Leben zuwenden, den eigenen Faszinationen, die somit plötzlich in einem völlig neuen und bedeutsamen Licht erscheinen mochten. Espen schlug
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