Sterben: Roman (German Edition)
noch eine Wendemöglichkeit. Die kann er nehmen, okay?«
»Okay. Bis später.«
Ich legte auf und ging ins Wohnzimmer zu meiner Mutter. Als sie mich sah, schaltete sie den Staubsauger aus.
»Ich bin mal kurz bei Per«, sagte ich. »Will ihm nur einen guten Rutsch wünschen.«
»Tu das«, erwiderte Mutter. »Wenn du seine Eltern siehst, grüß sie von uns.«
Per war ein Jahr jünger als ich und wohnte zweihundert Meter unterhalb von uns, im Nachbarhaus. Ich hatte die meiste Zeit, die wir hier wohnten, mit ihm verbracht. Wir spielten möglichst oft Fußball, nach der Schule, an den Wochenenden, in den Ferien, und häufig drehte sich alles darum, genügend Leute für ein richtiges Spiel zusammenzutrommeln, aber wenn das nicht klappte, spielten wir eben stundenlang zwei gegen zwei, und wenn auch das nicht klappte, waren es eben nur ich und Per. Er schoss auf mein Tor, ich schoss auf seins, ich schlug Flanken für ihn, er schlug Flanken für mich, oder wir spielten Zweier, wie wir es nannten. Tagein, tagaus machten wir so weiter, auch nachdem ich aufs Gymnasium gewechselt war. Ansonsten gingen wir schwimmen, entweder in dem Kolk unter dem Wasserfall, wo das Wasser so tief war, dass man von einem Felsen hineinspringen konnte, oder unten bei den Stromschnellen, wo wir von den Wassermassen mitgerissen wurden. Wenn das Wetter zu schlecht war, um draußen zu sein, sahen wir uns in ihrem Partykeller Videos an oder hingen in der Garage herum und redeten. Ich war gerne dort, er hatte eine warmherzige und großzügige Familie, und obwohl sein Vater mich nicht leiden konnte, war ich trotzdem herzlich willkommen. Aber auch wenn ich mit Per mehr Zeit verbrachte als mit allen anderen, war er in meinen Augen trotzdem kein Freund, ich erwähnte ihn nie in anderen Zusammenhängen, zum einen, weil er jünger war als ich, was nicht gut war, zum anderen, weil er so ein Bauer war. Er interessierte sich nicht für Musik und kannte sich überhaupt nicht aus, genauso wenig interessierte er sich für Mädchen oder Alkohol, ihm reichte es völlig, die Wochenenden zu Hause mit seiner Familie zu verbringen. Er hatte kein Problem damit, in Gummistiefeln in die Schule zu kommen, trug ebenso gerne Strickpullover und Cordhosen wie Jeans mit Hochwasser und T-Shirts mit der Aufschrift Tierpark Kristiansand . Als ich in die Stadt zog, war er noch nie alleine dort gewesen. Ein Buch hatte er wahrscheinlich niemals gelesen, er stand auf Comics, wie ich letztlich auch, allerdings immer nur zusätzlich zu der endlosen Reihe von Büchern von MacLean, Bagley, Smith, Le Carré und Follett, die ich verschlang, wozu ich ihn schließlich auch überredete. Jeden zweiten Samstag gingen wir zusammen in die Bücherei und jeden zweiten Sonntag zu den Heimspielen von Start, zweimal in der Woche trainierten wir im Verein, im Sommerhalbjahr hatten wir außerdem jede Woche ein Spiel, und darüber hinaus gingen wir täglich zusammen zum Schulbus und zurück. In derselben Reihe saßen wir jedoch nicht, denn je näher wir der Schule und dem Leben dort kamen, desto weniger war Per mein Freund, bis wir auf dem Schulhof schließlich überhaupt keinen Kontakt mehr miteinander hatten. Seltsamerweise machte ihm das nichts aus. Er war immer fröhlich, immer offen, hatte viel Sinn für Humor, und war, wie alle in seiner Familie, ein warmherziger Mensch. Zwischen den Jahren war ich zweimal bei ihm gewesen, wir hatten ein Video geguckt und waren auf dem Hang hinter unserem Haus Ski gelaufen. Ihn an Silvester einzuladen, mich zu begleiten, wäre mir niemals in den Sinn gekommen, ich hätte es nicht einmal ansatzweise in Erwägung gezogen. Jan Vidar hatte eine Nicht-Beziehung zu Per, sie kannten sich natürlich, wie sich hier oben alle kannten, aber er war nie zu zweit mit ihm unterwegs und sah wohl auch keinen Grund dazu. Als ich hierhergezogen war, hing Jan Vidar mit Kjetil zusammen, einem Gleichaltrigen, der in Kjevik wohnte, sie waren damals die besten Freunde und gingen beim anderen ein und aus. Kjetils Vater war Soldat und hatte, wenn ich es recht verstand, häufig umziehen müssen. Als Jan Vidar anfing, sich vor allem wegen unseres gemeinsamen Interesses an Musik mit mir zu treffen, versuchte Kjetil ihn zurückzugewinnen, rief ständig an und lud ihn ein und riss Insiderwitze, die nur die beiden verstanden, wenn wir in der Schule zu dritt zusammenstanden; als das jedoch nicht funktionierte, senkte er seine Ansprüche und lud uns beide zu sich ein. Wir radelten auf dem Flugplatz
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