Sterben: Roman (German Edition)
Bett. Nach einer Weile klopfte Mutter an die Tür.
»Jan Vidar ist am Telefon«, sagte sie.
Der Apparat stand im Erdgeschoss in dem Zimmer mit den Kleiderschränken. Ich ging hinunter, schloss die Tür und nahm den Hörer.
»Ja?«, sagte ich.
»Es hat eine Katastrophe gegeben«, sagte Jan Vidar. »Dieser verdammte Leif Reidar …«
Leif Reidar war sein Bruder. Er war Anfang zwanzig, fuhr einen frisierten Opel Ascona, arbeitete in der Parkettfabrik. Sein Leben orientierte sich nicht nach Südwesten, in Richtung Stadt wie meins und das der meisten anderen, sondern nach Nordosten, in Richtung Birkeland und Lillesand, was in Kombination mit seinem Alter dazu führte, dass ich nie wusste, woran ich bei ihm war, wer er war, was er eigentlich trieb. Er hatte einen Bart und trug oft Pilotensonnenbrillen, war aber kein durchschnittlicher Hinterwäldler, denn irgendetwas an seiner adretten Art, sich zu kleiden, und an seinem Benehmen, schien etwas anderes anzudeuten.
»Was hat er getan?«, sagte ich.
»Er hat die Tüten im Garten gefunden. Und konnte es damit verdammt nochmal nicht gut sein lassen. Dieser Dreckswichser mit seiner verdammten Doppelmoral. Er hat mich fertiggemacht, verstehst du, ausgerechnet der. Ich wäre erst sechzehn und so weiter. Dann hat er von mir verlangt, dass ich ihm erzähle, wer das Bier gekauft hat. Ich habe mich natürlich geweigert. Das geht ihn doch echt nichts an. Aber dann hat er gemeint, wenn ich keinen Namen herausrücke, erzählt er es meinem Vater. So was von scheißscheinheilig. Dieser … hol ihn der Teufel. Ich musste es ihm also sagen. Und weißt du, was er dann gemacht hat? Weiß du, was dieser Sack getan hat?«
»Nein.«
Schnee stob von den Windstößen wie ein Schleier vom Dach der Scheune. Das Licht aus den Fenstern in der unteren Etage leuchtete sanft, fast geheimnisvoll vor der langsam einsetzenden Dämmerung. Ich sah flüchtig eine Bewegung hinter den Fenstern und dachte, das muss Vater sein, und richtig, in der nächsten Sekunde nahm sein Gesicht hinter der Fensterscheibe Gestalt an, er sah genau in meine Richtung. Ich schlug die Augen nieder, wandte den Kopf halb ab.
»Er hat mich gezwungen, mit ihm und den Tüten zu Tom zu fahren.«
»Echt?«
»Scheiße, er ist so ein verdammter Arsch. Das macht ihm so richtig Spaß, das Ganze. Es kam mir echt so vor, als würde er sich darin sonnen. Jetzt auf einmal ist er so ein verdammter Musterknabe. Er . Ich könnte ausflippen vor Wut.«
»Und was ist dann passiert?«, sagte ich.
Als ich erneut zu den Fenstern hinüberlinste, war das Gesicht verschwunden.
»Was passiert ist? Was glaubst du wohl? Er hat Tom eine Standpauke gehalten. Dann sollte ich Tom die Tüten mit dem Bier geben. Das habe ich getan. Und dann sollte Tom mir das Geld zurückgeben. Als wäre ich bloß ein verdammtes Scheißbaby. Als hätte er nicht das Gleiche getan, als er selber sechzehn war. So eine Scheiße, eh. Das hat ihm Spaß gemacht, verstehst du? Es hat ihm so richtig Spaß gemacht, sich aufzuregen, es hat ihm Spaß gemacht, mich dahin zu fahren, es hat ihm Spaß gemacht, Tom anzumachen.«
»Und was machen wir jetzt? Etwa ohne Bier losziehen? Das geht doch nicht.«
»Da hast du Recht, aber als wir gegangen sind, habe ich Tom zugezwinkert. Er hat kapiert, was los ist. Als ich nach Hause gekommen bin, habe ich ihn sofort angerufen und mich entschuldigt. Er hat keine große Sache daraus gemacht. Jedenfalls will er mit dem Bier zu dir fahren, holt mich aber auf dem Weg ab, damit ich ihn bezahlen kann.«
»Ihr kommt hierher ?«
»Ja, er kommt in zehn Minuten vorbei. Dann sind wir in einer Viertelstunde bei dir.«
»Warte mal, ich muss kurz nachdenken«, sagte ich.
Erst in diesem Moment entdeckte ich, dass unser Kater auf dem Stuhl neben dem Telefontischchen lag. Er sah mich an, leckte sich die Pfote. Im Wohnzimmer sprang der Staubsauger an. Der Kater drehte blitzschnell den Kopf. In der nächsten Sekunde entspannte er sich wieder. Ich lehnte mich vor und kraulte seine Brust.
»Ihr könnt nicht bis zu unserem Haus fahren. Das geht nicht. Aber wir könnten die Tüten natürlich einfach irgendwo am Straßenrand ablegen. Hier oben findet sie schon keiner.«
»Am Fuß des Hügels, vielleicht?«
»Unterhalb vom Haus?«
»Ja.«
»Am Fuß des Hügels unterhalb vom Haus in fünfzehn Minuten?«
»Ja.«
»In Ordnung. Tom musst du noch sagen, dass er bei uns nicht wenden kann, und unten bei den Briefkästen auch nicht. Weiter oben gibt es aber auch
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