Sterben: Roman (German Edition)
schraubte trotzdem ein wenig an den Wirbeln. Mehrere Autos fuhren auf den Parkplatz, kreisten langsam auf der Suche nach einem freien Platz. Sobald sich die Türen öffneten, kletterten die Kinder auf der Rückbank ins Freie und hüpften ein wenig auf dem Asphalt herum, ehe sie nach den Händen ihrer Eltern griffen und Hand in Hand mit ihnen auf uns zugingen. Alle starrten beim Vorbeigehen, keiner blieb stehen.
Jan Henrik schloss den Bass an den Verstärker an, zog fest an einer Saite. Es schallte über den Asphalt.
BUMM .
BUMM . BUMM . BUMM .
Beide Bøksle-Brüder schauten singend zu uns herüber. Jan Henrik machte einen Schritt zum Verstärker und drehte ein wenig am Lautstärkeregler. Spielte noch zwei Töne.
BUMM . BUMM .
Øvind schlug mehrmals auf die Trommeln. Jan Vidar spielte einen Akkord auf der Gitarre. Das Ganze war verdammt laut. Alle auf dem Platz starrten nun in unsere Richtung.
»He! Hört auf damit!«, rief einer der Bøksle-Brüder.
Jan Vidar blickte sie herausfordernd an, ehe er sich umdrehte und noch einen Schluck Cola trank. Aus dem Bassverstärker kamen Töne, aus Jan Vidars Gitarrenverstärker kamen Töne. Aber was war mit meinem? Ich drehte an der Gitarre leiser, schlug einen Akkord an, drehte langsam lauter, bis der Verstärker sich die Töne gleichsam packte und dann höher hob, wobei ich die zwei Gitarre spielenden Männer auf der anderen Seite der Passage ansah, die breitbeinig und lächelnd ihre putzigen Lieder über Möwen, Ruderboote und Sonnenuntergänge sangen. Als sie mit Blicken, die sich schwerlich anders als wutentbrannt charakterisieren ließen, zu mir herüberschauten, drehte ich wieder leiser. Es kamen Töne, es war alles in Ordnung.
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte ich Jan Vidar. Seine Finger liefen auf dem Gitarrenhals auf und ab.
»Zehn vor halb«, sagte er.
»Diese verdammten Idioten«, sagte ich. »Die sollten doch schon fertig sein.«
Die Bøksle-Brüder verkörperten alles, wogegen ich aufbegehrte, das Respektable, das Anständige, das Bürgerliche, und ich freute mich darauf, den Verstärker lautzustellen und sie vom Platz zu fegen. Bis zu diesem Tag hatte mein Aufruhr darin bestanden, in der Klasse abweichende Meinungen zu vertreten und manchmal den Kopf auf das Pult zu legen und zu schlafen, und als ich in der Stadt einmal eine leere Brottüte auf den Bürgersteig geworfen hatte und ein älterer Mann mich daraufhin bat, sie wieder aufzuheben, bestand er darin, ihn aufzufordern, sie doch selbst aufzuheben, wenn ihm das so verdammt wichtig war. Als ich mich anschließend umgedreht und ihn stehen gelassen hatte, pochte das Herz in meiner Brust dermaßen, dass ich kaum atmen konnte. Ansonsten fand meine Revolte in der Musik statt, wo mich die bloße Tatsache, dass ich hörte, was ich hörte, unkommerzielle, undergroundartige, kompromisslose Bands, zu einem Aufrührer machte, zu jemandem, der das Bestehende nicht akzeptierte, sondern dafür kämpfte, dass sich etwas änderte. Und je lauter ich spielte, desto näher kam ich diesem Ziel. Ich hatte mir ein besonders langes Kabel für die Gitarre gekauft, mit dessen Hilfe ich unten vor dem Spiegel im Flur stehend spielen konnte, während der Verstärker in meinem Zimmer in der oberen Etage voll aufgedreht war, und daraufhin passierte etwas, die Töne wurden verzerrt, schneidend, und fast schon unabhängig davon, was ich tat, klang es gut, das ganze Haus war von den Tönen meiner Gitarre erfüllt, und es entstand ein seltsamer Gleichklang zwischen meinen Gefühlen und diesen Tönen, als wären sie es, die ich waren, als wäre mein wahres Ich so . Ich hatte einen Text darüber geschrieben, eigentlich als Song gedacht, aber da sich keine Melodie einstellen wollte, nannte ich ihn ein Gedicht, als ich ihn in mein Tagebuch übertrug.
Ich verzerre das Feedback meiner Seele
ich spiele mein Herz leer
ich sehe dich an und denke:
wir sind vereint in meiner Einsamkeit
wir sind vereint in meiner Einsamkeit
du und ich
du und ich, liebe …
Ich wollte hinaus, hinaus ins Offene, Große. Und das Einzige, was meines Wissens Kontakt dazu hatte, war die Musik. Deshalb stand ich an diesem frühen Herbsttag 1984 mit meiner weißen, zur Konfirmation erworbenen Stratocaster-Kopie, die auf meiner Schulter hing, vor dem Einkaufszentrum in Hånes, den Zeigefinger an den Lautstärkeregler gelegt, um sofort aufdrehen zu können, sobald die Bøksle-Brüder ihren letzten Akkord verklingen ließen.
Ein plötzlicher Windstoß fegte über
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