Sterben: Roman (German Edition)
wurde keiner schlau, denn sein ganzes Speed-Metal-Ding und all die Geschmacklosigkeiten, denen er sich widmete und über die alle in unserer Klasse lachten, passten so gar nicht zu seiner Schüchternheit, die wiederum so gar nicht zu seiner fast völligen Offenheit passte, die er manchmal vollkommen furchtlos zeigte. So war er einmal mit einem Gedicht zu mir gekommen, das ein Jahr zuvor in der Mädchenzeitschrift Das Neue veröffentlicht worden war, in der man ihn auch interviewt hatte. Bescheiden, schamlos, sensibel, schüchtern, aggressiv, roh. Das war Pål. Dass ausgerechnet er unsere Band hören durfte, war in gewisser Weise gut, denn Pål war unwichtig, worüber er lachte, spielte keine Rolle. Deshalb steckte ich den Walkman einigermaßen gelassen in die Tasche und ging in den Unterricht. Er hatte sicher Recht, wenn er sagte, dass wir nicht besonders gut spielten. Aber seit wann war es so wichtig, gut zu spielen? Hatte er noch nie von Punk gehört? New Wave? Keine dieser Bands spielte gut. Aber sie hatten Power. Kraft. Seele. Präsenz.
Kurze Zeit später, im Frühherbst 1984, bekamen wir unsere erste Chance zu einem Auftritt. Øyvind hatte ihn organisiert. Das Einkaufszentrum in Hånes beging seinen fünften Geburtstag, was mit Ballons, Kuchen und Musik gefeiert werden sollte. Die Bøksle-Brüder, die in diesem Teil des Landes seit zehn Jahren für ihre Interpretationen von Volksliedern aus dem Sørland bekannt waren, würden auftreten. Darüber hinaus wollte der Geschäftsführer noch gerne etwas Lokales, möglichst Jugendliches haben, und zu diesem Anforderungsprofil passten wir, die wir wenige hundert Meter hinter dem Zentrum in unserer Schule probten, perfekt. Wir sollten zwanzig Minuten spielen und für den Auftritt fünfhundert Kronen bekommen. Wir umarmten Øyvind, als er es uns erzählte. Verdammt, endlich waren wir mal an der Reihe.
Die zwei Wochen bis zu dem Gig an einem Samstagvormittag um elf vergingen wie im Flug. Wir probten mehrmals, sowohl die ganze Band als auch Jan Vidar und ich alleine, wir diskutierten die Reihenfolge der Lieder von oben bis unten und von hinten bis vorn, wir kauften frühzeitig neue Saiten, um sie gründlich einspielen zu können, wir entschieden, wie wir uns anziehen würden, und als der Tag kam, trafen wir uns schon früh in unserem Probenraum, um den Set vor dem Konzert noch ein-, zweimal durchzuspielen, denn auch wenn uns bewusst war, dass die Gefahr bestand, unser ganzes Pulver zu verschießen, bevor es darauf ankam, erschien es uns wichtiger, uns beim Spielen der Lieder sicher zu fühlen.
Oh, ich fühlte mich gut, als ich mit dem Gitarrenkoffer in der Hand den asphaltierten Platz vor dem Einkaufszentrum überquerte. Die Ausrüstung war schon an Ort und Stelle, auf der einen Seite der Passage, die zu der Rasenfläche in der Mitte führte. Øyvind war dabei, das Schlagzeug aufzubauen, Jan Vidar stimmte seine Gitarre mit dem neuen Stimmgerät, das er eigens für diesen Anlass gekauft hatte. Ein paar Kinder sahen ihnen zu. Bald würden sie auch mich sehen. Ich hatte sehr kurze Haare, trug die grüne Militärjacke, eine schwarze Jeans, Nietengürtel, weißblaue Baseballschuhe. Und natürlich den Gitarrenkoffer in der Hand.
Auf der anderen Seite der Passage standen die Bøksle-Brüder und sangen. Eine kleine Menschengruppe, vielleicht zehn Personen, war stehengeblieben und hörte zu. Ein Strom aus anderen Menschen kam auf dem Weg von oder zu den Geschäften vorbei. Es war windig, und irgendetwas an diesem Wind ließ mich an das Konzert der Beatles 1969 auf dem Dach des Apple-Gebäudes denken.
»Alles klar?«, sagte ich zu Jan Vidar und legte den Gitarrenkoffer ab, nahm die Gitarre heraus, griff nach dem Band, legte es mir über die Schulter.
»Ja, klar«, erwiderte er. »Sollen wir einstecken? Wie viel Uhr ist es, Øyvind?«
»Zehn nach.«
»Noch zehn Minuten. Wir warten noch ein bisschen. Noch fünf Minuten. Okay?«
Er ging zum Verstärker und trank einen Schluck aus der Colaflasche, die dort stand. Um die Stirn hatte er sich ein zusammengerolltes Halstuch gebunden. Ansonsten trug er ein weißes Hemd, das über einer schwarzen Hose hing.
Die Bøksle-Brüder sangen.
Ich warf einen Blick auf unsere Setliste, die auf der Rückseite des Verstärkers klebte.
Smoke on the Water
Paranoid
Black Magic Woman
So Lonely
»Darf ich mir dein Stimmgerät leihen?«, sagte ich zu Jan Vidar. Er reichte es mir, und ich steckte das Kabel ein. Die Gitarre war gestimmt, aber ich
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