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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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erreichten, an der ich die beiden Tüten abgelegt hatte. Wir nahmen jeder eine und traten den Rückweg an.
    Als wir das Gebetshaus erreicht hatten, hörten wir hinter uns ein Auto.
    »Wollen wir trampen?«, sagte Jan Vidar.
    »Warum nicht?«, erwiderte ich.
    In der linken Hand die Tüte haltend und die rechte mit erhobenem Daumen in die Fahrbahn reckend, standen wir da und lächelten das näherkommende Auto an. Der Wagen schaltete nicht einmal das Fernlicht ab. Wir trotteten weiter.
    »Was machen wir, wenn uns keiner mitnimmt?«, sagte Jan Vidar nach einer Weile.
    »Uns nimmt schon noch irgendwer mit«, antwortete ich.
    »Hier fahren in der Stunde zwei Autos vorbei«, sagte er.
    »Hast du eine bessere Idee?«, sagte ich.
    »Weiß nicht«, erwiderte er. »Aber bei Richard sitzen ein paar Leute.«
    »Jetzt hör aber auf«, sagte ich.
    »Und Stig und Liv sitzen mit ein paar Freunden in Kjevik«, fuhr er fort. »Das wäre auch noch eine Möglichkeit.«
    »Wir haben Søm gesagt, oder?«, sagte ich. »Du kannst doch nicht jetzt anfangen vorzuschlagen, wo wir Silvester feiern sollen! Es ist Silvester!«
    »Ja, und wir stehen am Straßenrand. Macht das etwa Spaß?«
    Hinter uns kam erneut ein Auto.
    »Siehst du«, sagte ich. »Noch ein Auto!«
    Es hielt nicht an.
    Als wir wieder gegenüber von Jan Vidars Haus standen, war es halb neun. Ich hatte eiskalte Füße, und für einen kurzen Moment war ich versucht, ihm vorzuschlagen, das Bier zu verstecken und stattdessen Silvester mit seinen Eltern zu feiern. Gelaugter Stockfisch und Limonade, Eis, Kekse und Feuerwerk. So hatten wir sonst immer gefeiert. Als ich seinem Blick begegnete, erkannte ich, dass ihm derselbe Gedanke gekommen war. Aber wir gingen weiter. Aus der Siedlung heraus, an der Straße zur Kirche vorbei, durch die Kurve und aufwärts an der kleinen Ansammlung Häuser entlang, wo unter anderem Kåre aus meiner Klasse wohnte.
    »Glaubst du, Kåre ist heute Abend unterwegs?«, sagte ich.
    »Ist er«, antwortete Jan Vidar. »Er ist bei Richard.«
    »Noch ein Grund, nicht dahin zu gehen«, sagte ich.
    Es war nichts falsch an Kåre, aber auch nichts richtig. Kåre hatte große, abstehende Ohren, volle Lippen, dünne, sandfarbene Haare und zornige Augen. Er war fast immer wütend und hatte dafür sicher gute Gründe. In jenem Sommer, in dem ich in die Schule kam, hatte er mit gebrochenen Rippen und einem gebrochenen Handgelenk im Krankenhaus gelegen. Er war mit seinem Vater in der Stadt gewesen und hatte Material geholt, unter anderem ein paar Platten, die sie auf dem Anhänger hinter dem Auto transportierten, allerdings ohne sie ordentlich zu befestigen. Als sie auf die Varodd-Brücke hinaufkamen, hatte der Vater deshalb Kåre gebeten, sich in den Anhänger zu setzen, um das Baumaterial festzuhalten. Er war mit den Platten heruntergeweht und bei seinem Sturz auf die Straße übel zugerichtet worden. Darüber lachten wir den ganzen Herbst, und es gehörte immer noch zu den ersten Dingen, die einem einfielen, wenn Kåre auftauchte.
    Mittlerweile besaß er ein Moped und hing mit den anderen Mopedfahrern herum.
    Auf der anderen Seite der Kurve wohnte Liv, auf die Jan Vidar schon immer ein Auge geworfen hatte. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Sie hatte einen hübschen Körper, aber gleichzeitig hatten ihr Humor und die Art, wie sie sich gab, etwas Jungenhaftes, das ihre Brüste und Hüften gleichsam neutralisierte. Außerdem hatte ich einmal vor ihr im Bus gesessen, und sie hatte einem der anderen Mädchen zugewunken, mit den Händen hatte sie wie wild gewunken und dann gesagt: »Oh, sie sind so ekelhaft! Seine langen Hände! Habt ihr sie gesehen?« Als die gewünschte Reaktion ausblieb, weil die Mädchen, an die sie sich gewandt hatte, mich unverwandt anstarrten, drehte sie sich zu mir um und errötete, wie ich sie noch nie zuvor hatte rot werden sehen, wodurch jeglicher Zweifel ausgeräumt war, wessen Hände sie so abstoßend fand.
    Unterhalb lag das Gemeindehaus, danach folgte ein kurzer, aber steiler Hang bis zum Supermarkt hinunter, wo die langgezogene Ryen-Ebene begann, an deren Ende der Flugplatz lag.
    »Ich glaube, ich rauche eine«, meinte ich und nickte in Richtung Bushaltestelle jenseits des Gemeindehauses. »Sollen wir uns da kurz unterstellen?«
    »Rauch du nur«, sagte Jan Vidar. »Es ist immerhin Silvester.«
    »Sollen wir auch ein Bier trinken?«, sagte ich.
    »Hier? Wozu soll das gut sein?«
    »Bist du sauer?«
    »Was heißt hier sauer.«
    »Ach, nun

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