Sterben: Roman (German Edition)
jedenfalls Hunger«, sagte ich.
Vor meinem inneren Ohr hörte ich, wie es sich anhören musste.
»Hunge.«
Wir zogen im Flur Mantel und Jacke aus, ich setzte die Schuhe säuberlich zusammen auf den Boden des offenen Kleiderschranks und hängte die Jacke auf einen der alten, rissig gewordenen goldenen Kleiderbügel, Großmutter stand an der Treppe und betrachtete uns mit jener Ungeduld im Körper, die ihr immer eigen gewesen war. Eine Hand strich über die Wange. Ihr Kopf wandte sich ein wenig zur Seite. Sie verlagerte das Gewicht vom einen Fuß auf den anderen. Scheinbar unbeeindruckt von diesen kleinen Bewegungen unterhielt sie sich gleichzeitig mit Vater. Erkundigte sich, ob bei uns auch so viel Schnee lag. Ob Mutter gefahren war, wann sie das nächste Mal nach Hause kommen würde. Ja, genau, sagte sie jedesmal, wenn er etwas sagte. Genau.
»Und du, Karl Ove?«, sagte sie und sah zu mir hinüber. »Wann fängt denn die Schule wieder an?«
»In zwei Tagen.«
»Das wird schon klappen, nicht?«
»Ja, sicher.«
Vater musterte sich kurz im Spiegel. Sein Gesicht war ruhig, aber in seinen Augen war ein Schatten von Unzufriedenheit erkennbar, sie wirkten kalt und desinteressiert. Er machte einen Schritt auf Großmutter zu, die sich umdrehte und leichtfüßig und schnell die Treppe hochstieg. Vater folgte ihr mit schweren Schritten, und dann kam ich, den Blick auf die dichten, schwarzen Haare in seinem Nacken gerichtet.
»Sieh einer an!«, sagte Großvater, als wir in die Küche kamen. Er saß breitbeinig und zurückgelehnt auf einem Stuhl am Küchentisch, mit schwarzen Hosenträgern über dem weißen Hemd, das am Hals aufgeknöpft war. Eine Haarlocke hing ihm ins Gesicht, die er im selben Moment mit einer Hand zurückstrich. In seinem Mund hing eine Kippe ohne Glut.
»Wie waren die Straßen?«, sagte er. »Glatt?«
»Halb so wild«, antwortete Vater. »Silvester war es schlimmer. Außerdem ist kaum Verkehr.«
»Setzt euch«, sagte Großmutter.
»Nein, dann ist ja kein Platz mehr für dich«, sagte Vater.
»Ich bleibe stehen«, erwiderte sie. »Ich will euch doch das Essen aufwärmen. Wisst ihr, ich sitze sowieso den ganzen Tag. Jetzt setzt euch schon!«
Großvater hielt ein Feuerzeug unter die Kippe und zündete sie an. Paffte ein paarmal, blies Rauch ins Zimmer.
Großmutter stellte die Herdplatten an, trommelte mit den Fingern auf der Arbeitsplatte und pfiff leise und zischend, wie es ihre Art war.
Vater war in gewisser Weise zu groß, um an diesem Küchentisch zu sitzen, überlegte ich. Nicht körperlich, Platz gab es genug, es war vielmehr so, dass er nicht dorthin passte. Etwas an ihm oder dem, was er ausstrahlte, verwahrte sich gegen diesen Küchentisch.
Er zog eine Zigarette heraus und zündete sie an.
Hätte er besser ins Esszimmer gepasst? Wenn wir dort gegessen hätten?
Ja, das hätte er. Dort wäre es besser gegangen.
»Jetzt haben wir also 1985«, sagte ich, um die bereits Sekunden andauernde Stille zu durchbrechen.
»Ja, so ist es wohl«, meinte Großmutter.
»Und wo ist dein Bruder?«, sagte Großvater. »Ist er wieder in Bergen?«
»Nein, er ist noch in Arendal«, antwortete ich.
»Ja«, sagte Großvater. »Weißt du was, er ist ein richtiger Arendaler geworden.«
»Ja, er schaut nicht mehr oft bei uns vorbei«, meinte Großmutter. »Dabei hatten wir so viel Spaß mit ihm, als er klein war.«
Sie sah mich an.
»Aber du kommst ja!«
»Was studiert er noch?«, sagte Großvater.
»War es nicht Politologie?«, sagte Vater und sah mich an.
»Nein, er hat jetzt mit Kommunikationswissenschaften angefangen«, erklärte ich.
»Weißt du nicht, was dein eigener Sohn studiert?«, sagte Großvater und lächelte.
»Doch, doch. Das weiß ich durchaus«, sagte Vater. Er drückte die halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und drehte sich zu Großmutter um. »Ich denke, wir können jetzt essen, Mutter. Es braucht ja nicht glühend heiß zu sein. Es ist bestimmt warm genug, meinst du nicht?«
»Ich denke schon«, sagte Großmutter, holte zwei Teller aus dem Schrank, stellte sie vor uns ab, nahm Besteck aus der Schublade und legte es neben die Teller.
»Ich mache es heute mal einfach so«, sagte sie, nahm Vaters Teller und tat ihm Kartoffeln, Erbsenpüree, Frikadellen und Sauce auf.
»Das sieht gut aus«, sagte Vater, als sie den Teller vor ihm absetzte und nach meinem griff.
Die beiden einzigen Menschen, die meines Wissens genauso schnell aßen wie ich selbst, waren Yngve und Vater.
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