Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
doch war er sich sicher, dass es nicht allein Hunger war, der seinen Magen rumoren ließ. Vielleicht hatte er vor zwei Jahren doch einen schweren Fehler gemacht. Und er hatte ganz bestimmt nicht vor, diesen Fehler zu wiederholen und einen weiteren Unschuldigen zu opfern.
Er atmete tief und gleichmäßig, bis er seinen Puls nicht mehr in den Ohren rauschen hörte. Dann legte er mit zitternder Hand den Gang ein und fuhr weiter.
Gut fünf Minuten später kam er in der Auffahrt vor seiner Wohnung zum Stehen. Vor der Haustür kramte er, noch immer tief in Gedanken, in der Hosentasche nach dem Schlüssel, als er plötzlich unmittelbar neben sich ein Rascheln hörte.
Wieder durchzuckte ihn die Panik. Der Schlüssel glitt ihm aus der Hand und fiel klirrend zu Boden, während Sven aus einem der Büsche, die die Einfahrt säumten, einen Schatten auf sich zuschießen sah. Unwillkürlich riss er abwehrend die Hände hoch. Doch dann erkannte er, dass es eine Katze war, die an ihm vorbeischoss und etwas Kleines, Wendiges ins Unterholz verfolgte.
»Zorro, du Mistvieh!«, fluchte Sven erleichtert. »Ich hoffe, was immer du da gerade jagst, entwischt dir!« Dann griff er nach dem Schlüssel am Boden und lachte, als er sich erhob. Jetzt habe ich schon Todesangst vor meiner eigenen Katze , dachte er amüsiert. Es war höchste Zeit, diesen Fall abzuschließen, bevor er endgültig den Verstand verlor.
Seine Hände zitterten noch immer, als er die Haustür öffnete und den gefliesten Flur betrat. Das Haus gehörte einem Rentnerehepaar, das im oberen Geschoss wohnte. Nette, ruhige Leute, die die Sommermonate in ihrem Ferienhaus auf Sylt verbrachten. Sven lebte gern hier. Die Wohnung war geräumig und die Miete niedrig. Eigentlich war es mehr ein Kompromiss zwischen ihm und den Vermietern. Es beruhigte die alten Leute, einen Polizisten im Haus zu haben, besonders in der Zeit, die sie auf der Insel verbrachten.
Vor seiner Wohnungstür angekommen, hörte er sein Telefon läuten. Noch bevor er die Tür geöffnet hatte, schaltete sich sein Anrufbeantworter ein. Ohne Licht zu machen, eilte er durch den schmalen Flur. Doch als er das Telefon erreichte, hatte der Anrufer bereits aufgelegt. Das rote Blinklicht verkündete vier Nachrichten. Die erste war von Ivonne, die wissen wollte, wie es ihm ging. Sie versicherte ihm, dass mit ihr und Torsten alles in Ordnung sei und dass sie ihn für das kommende Wochenende zum Essen einladen wollte. Sie betonte ausdrücklich, dass sein Schwager an diesem Abend Wachdienst hätte und somit aus ihrer Sicht kein Grund bestand, diese Einladung nicht anzunehmen. Torsten könne es jedenfalls kaum erwarten, wieder mit ihm herumzutollen. Während Sven schmunzelnd ihrer Stimme lauschte und beschloss, die Einladung anzunehmen, zog er die gläserne Schiebetür auf, die zu der kleinen Terrasse hinter dem Haus führte. Dabei fiel ihm ein, dass er den defekten Riegel reparieren lassen musste. Er trat nach draußen, wo der Mond fast voll am klaren Nachthimmel stand und unheimliche Schatten warf, und ließ die Ruhe auf sich wirken.
Die drei darauf folgenden Nachrichten machten diese Ruhe augenblicklich zunichte. Sie waren alle von Koschny, der mit der üblichen Dringlichkeit verkündete, dass er Sven sofort sprechen müsse. Es ginge um den Inhalt der Probe, und er solle ihn auf jeden Fall zurückrufen. Nach jeder Nachricht hinterließ er seine Handynummer. Seufzend ging Sven zum Telefon zurück. Das würde er wohl gleich erledigen müssen, wenn er nicht wollte, dass Koschny ihn mitten in der Nacht aus dem Bett klingelte. Ein seltsames Knacken war in der Leitung zu hören, als die Verbindung zustande kam, wie bei einer Funkstörung. Nach einigen Sekunden meldete sich die Mailbox, was Sven sehr gelegen kam. So konnte er Koschnys Aufforderung nachkommen, ohne sich persönlich mit ihm herumärgern zu müssen. »Hier Becker«, sagte er nach dem Piepton. »Ich bin zu Hause und habe Ihre Nachricht erhalten. Es ist ziemlich spät, und ich bin müde, es muss also bis morgen warten. Rufen Sie mich im Büro an, ich bin so gegen neun Uhr dort.« Er machte eine kleine Pause. Wieder vernahm er das leise Knacken. Dann fügte er mit Nachdruck hinzu: »Und kommen Sie ja nicht auf die Idee, mich zu wecken, sonst …«
Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos erhellten das Halbdunkel des Wohnzimmers – und in diesem kurzen Moment erblickte Sven die schattenhaften Umrisse einer menschlichen Gestalt auf seinem Sofa.
Seine Hand
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