Sterbliche Hüllen: Thriller (German Edition)
Plötzlich hörte sie ein Geräusch in Andies Büro, das direkt neben dem ihren lag.
Diane suchte in ihrem Schreibtisch nach einer Waffe. Alles, was sie finden konnte, war ein mit Mayasymbolen verzierter Brieföffner. Sie nahm ihn und versuchte sich über ihre nächsten Schritte klar zu werden. Sollte sie Leonard rufen? Der war wohl immer noch im oberen Stock. Das Ganze war einfach lächerlich. Es war wahrscheinlich Andie selbst. Sie legte den Brieföffner zurück auf ihren Schreibtisch, ging hinaus auf den Flur zur Tür von Andies Büro. Wenn sie es vom Flur aus betrat, blieb ihr ein Rückzugsweg offen, und jemand würde notfalls ihre Hilferufe hören.
Sehr vorsichtig öffnete sie die Tür. Eine von der Schreibtischlampe schwach beleuchtete Gestalt war gerade dabei, Andies Schreibtischschublade zu durchstöbern.
6
D iane machte die Deckenbeleuchtung an und sah, wie die gebückte Gestalt hochschreckte und sich mit der Hand an die Brust fasste.
»Oh … Dr. Fallon … Haben Sie mich aber erschreckt.«
»Da sind wir dann schon zwei. Kann ich Ihnen helfen?« Diane entspannte sich und war erleichtert, dass sie den Maya-Brieföffner nicht mitgenommen hatte. Der Eindringling war Melissa, die zweite Geigerin des Streichquartetts. Melissa strich eine Strähne ihres hellbraunen lockigen Haars aus der Stirn. »Ihre Assistentin Andie erzählte mir, sie habe etwas extrastarkes Aspirin in ihrer Schublade.« Sie hielt ihr Andies Schlüssel vor die Nase, als wolle sie dadurch beweisen, dass Andie ihr erlaubt habe, in ihrem Schreibtisch herumzukramen.
»Ich kann mir vorstellen, dass dieses stundenlange Spielen Kopfschmerzen verursacht.«
Melissas blaue Augen blickten erleichtert. »Das können Sie laut sagen. Das, und manche Leute. Einer hat uns doch tatsächlich gefragt, ob wir nicht ›Memory‹ spielen könnten.«
Diane lachte. »Als Nächstes möchten sie noch einen Karaoke-Abend im Museum veranstalten.«
»Hier sind sie ja.« Sie schüttete sich zwei Tabletten in die Hand und stellte dann das Fläschchen zurück in die Schublade.
»Direkt vor der Tür gibt es einen Trinkwasserspender.«
Als Melissa an Diane vorbei Andies Büro verließ, blieb der Duft ihres schweren Parfüms zurück. Sie schluckte die beiden Tabletten, spülte mit Wasser nach und atmete tief durch. »Wir sind Ihnen wirklich dankbar, dass Sie uns eingeladen haben. Es sind schon einige Gäste an uns herangetreten, die uns engagieren wollen.«
»Es überrascht mich nicht, dass die Leute beeindruckt sind. Die Musik war wirklich wunderbar.«
Diane bemerkte plötzlich, dass Melissa unter ihrem sorgfältig aufgetragenen Make-up ein blaues Auge hatte. Bei einem kurzen prüfenden Blick auf ihre Arme entdeckte sie keine weiteren blauen Flecken. Allerdings hatte ihr dunkles, bodenlanges, ärmelloses Kleid einen Rollkragen. Diane bekämpfte den Drang, den Kragen etwas herunterzuziehen und Melissas Hals zu begutachten.
Ich habe viel zu viel Zeit damit verbracht, Missbrauchsspuren zu untersuchen . Sie musste sich endlich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, und das war jetzt das Museum und nicht mehr das, was Menschen ihren Mitmenschen antaten. Trotzdem machte ihr der Gedanke zu schaffen, dass sie für die Opfer immer zu spät kam. Wenn sie sie zum ersten Mal sah, waren sie nur noch Knochen und verwestes Fleisch. Es wäre schön gewesen, wenn sie nur ein einziges Mal eine Gräueltat hätte verhindern können.
»Dieses blaue Auge muss aber ziemlich wehtun«, sagte Diane und ließ ihre Worte erst einmal wirken.
Melissa war jung, schüchtern, und an diesem Abend war Diane ihre Auftraggeberin – alles gute Gründe, zu erzählen, was passiert war, selbst wenn sie dazu lügen musste.
»Ja, das tut es, manchmal zumindest. Ich war einfach ungeschickt«, entgegnete Melissa schließlich. »Das Ganze ist beim Krafttraining passiert. Ich muss meine Arme trainieren, um so lange Geige spielen zu können. Es ist unglaublich, wie viel Kraft und Ausdauer man braucht, um die Arme stundenlang oben zu halten. Ich weiß nicht, wie das Lacy so lange mit ihrer Bratsche schafft. Egal, neulich habe ich mir mit einem Handgewicht selbst ins Gesicht geschlagen und bin dabei fast k.o. gegangen.«
Melissa lachte über sich selbst, aber Diane meinte, ein leichtes Zittern in ihrer Stimme zu hören. Außerdem deuteten solche langen, übergenauen Erklärungen oft darauf hin, dass der Erzähler log.
»Was für ein Pech, und dann noch so kurz vor dem Auftritt. Ich hoffe, es heilt
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