Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
wirst du deinen Fehler wiedergutmachen. Aber jetzt geht es erst einmal um dich. Was möchtest du ihm gern antun?«
»Ich … ich … ich weiß nicht. Habe ich denn das Recht, einem anderen Menschen etwas anzutun?« Mafalda war von den Ereignissen der letzten Zeit so verunsichert, dass sie das Gespür für das Richtige und Falsche verloren glaubte.
Grazia blickte sie mitleidig an. »Natürlich hast du das Recht. Man sollte keinem Menschen etwas Schlechtes antun. Und doch tut man es. Jeden Tag. Mal mit Absicht, mal ohne. Mal bemerkt man es, mal nicht. Der Amerikaner aber, der hat sich an dir vergangen. Das geht über das normale Maß an Bosheit hinaus. Er muss bestraft werden. Ich werde aufpassen, dass du nicht über das Ziel hinausschießt. Also, woran soll er leiden?«
Mafalda kniff die Augen zusammen. »Er war ein schöner, junger, herrischer Mann. Er war stolz und hochmütig. Ich möchte, dass er seinen Stolz verliert.«
Grazia blickte skeptisch. »Seinen Stolz? Seinen Hochmut? Hast du bedacht, dass diese beiden Sachen vielleicht Dinge sind, mit denen er sich schützen will? Vielleicht hat auch er in seinem Leben schlimme Dinge erfahren.«
Mafalda zuckte mit den Schultern. »Hat er auf mich Rücksicht genommen? Nein, das hat er nicht.« Mit einem Mal kam die Wut in ihr hoch. Sie biss die Zähne aufeinander, ihre Wangen röteten sich, die Augen funkelten vor gerechtem Zorn. »Er soll leiden«, presste sie hervor. »Er soll seine Männlichkeit verlieren. Er soll seine Schönheit verlieren. Alles soll er verlieren.«
Grazia reichte Mafalda ein paar Nadeln, die eigens für diese Zeremonie hergestellt worden waren. »Da, nimm und stich sie in die Puppe. Denk dabei, dass er es wäre, den du verletzt.«
Mafalda riss Grazia die Nadeln beinahe aus den Händen. Ganz fest hielt sie die erste, ließ sie über die Leibesmitte der Puppe schweben. Aber sie stach nicht zu.
»Was ist?«, fragte Grazia. »Hat dich der Mut verlassen? Willst du dich nicht mehr rächen?«
»Doch!«, erwiderte Mafalda mit fester Stimme, aber sie konnte nicht verbergen, dass ihre Hand zitterte.
Schließlich legte sie die Nadel weg. »Ich kann es nicht«, sagte sie. »Ich kann nicht auf diese Weise Rache an ihm üben. Von Angesicht zu Angesicht soll er mir gegenüberstehen. Dann werde ich ihm sein teuflisches, herrisches Grinsen aus dem Gesicht schlagen. Von Angesicht zu Angesicht. Aber nicht so, nicht heimlich.«
Grazia nahm Mafalda in den Arm und drückte sie fest an sich. »Nichts anderes habe ich von dir erwartet«, sagte sie leise. »Diese Magie ist schwarze Magie. Du brauchst so etwas nicht. Ich wollte auch nur erreichen, dass du deine Scham ablegst und stattdessen Wut bekommst. Wie ich sehe, ist dir das gelungen.«
Verblüfft machte sich Mafalda los. »Du hast recht. Mir geht es plötzlich viel besser.« Und dann breitete sie die Arme aus, drehte sich einmal um sich selbst, fröhlich wie lange nicht. Dann aber straffte sie die Schultern, reckte das Kinn und sagte: »Ich danke dir, Grazia. Jetzt bin ich auch bereit, Titine gegenüberzutreten.«
Wieder nickte die alte Frau. »Das ist gut so, denn Cesare ist gerade vorgefahren.«
Mafalda schluckte und wurde ein wenig blass. Doch schon öffnete sich die Tür, und Titine betrat das Zimmer.
»Mama!«, rief Aurelio und stürzte auf Titine zu.
Und Titine nahm den Jungen auf den Arm, bedeckte sein Gesicht mit Küssen, streichelte seine Arme, seinen Rücken, sein Haar, ehe sie ihn, mit Tränen in den Augen, behutsam wieder auf den Boden setzte.
Mafalda hatte zugesehen und war zutiefst gerührt. Wie konnte ich nur damals Titines erstes Kind, das kleine Mädchen, von seiner Mutter fortreißen?, fragte sie sich. Nein, es hilft nicht, wenn ich sage, ich tat es mit bester Absicht. Was ich tat, war grausam.
In diesem Augenblick entdeckte Titine ihre Schwägerin. Nur einen Lidschlag lang schien sie überrascht, dann breitete sie die Arme aus. »Mafalda, ich freue mich so, dich zu sehen.«
Mafalda glaubte, sich verhört zu haben. »Wirklich?«, fragte sie unsicher. »Ich dachte, du musst mich hassen.« Dann aber ließ sie sich von Titine in den Arm nehmen, ließ sich von ihr festhalten und schwor sich, die Schwägerin nie wieder allein zu lassen.
Später, nach dem Abendessen, saßen die beiden Frauen vor dem Haus auf einer Bank, während Grazia den kleinen Aurelio zu Bett brachte.
»Kannst du mir verzeihen, dass ich dich nach Havanna und weg von Fela gebracht habe?«, fragte
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