Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
Kinn. »Ich werde ihn suchen«, teilte sie ihm mit.
Cesare schüttelte den Kopf. »Das können Sie nicht. Nicht nur wegen der Orishas. Aurelio ist zu klein. Er braucht seine Mutter noch. Grazia ist zu alt, um ihm all das zu sein, was Sie ihm sind.«
»Trotzdem«, beharrte Titine. »Dann werde ich eben warten, bis er größer ist, und mit ihm gemeinsam nach seinem Vater suchen.«
Cesare wiegte den Kopf leise hin und her. »Haben Sie je von Lazarus gehört?«
»Lazarus?« Titine sah Cesare erstaunt an. »Der Lazarus aus der Bibel? Wie kommen Sie denn jetzt auf den?«
Noch immer hielt Cesare ihre Hand. »Sie selbst haben mich darauf gebracht, als Sie sagten, Sie fühlten sich, als hätten Sie Steine, Felsbrocken an den Füßen.«
Er drehte den Oberkörper, so dass er Titine direkt ins Gesicht blicken konnte. »Lazarus ist von den Toten auferstanden. Und ist es nicht genau das, was Sie sich von Ihrem Liebsten wünschen? Ist es nicht das, was Sie von den Orishas erbitten?«
»Ja, aber … er ist nicht tot, ich würde es fühlen.«
Cesare nickte. »Gut. Er ist nicht tot. Sie wissen es, weil Ihr Herz es Ihnen sagt. Aber auch Vergessene, Versteckte, Menschen, die für tot gehalten werden, können wieder auferstehen, nicht wahr?«
Titine nickte ernsthaft. »Was wollen Sie mir damit sagen, Cesare?«
»Nun, Lazarus ist der Herr der Leiden. So wie unser Orisha Babalao. Auch er ist der Herr des Leidens.«
»Ja?« Titine wusste noch immer nicht, worauf Cesare hinauswollte.
»Es gibt eine Kirche in der Nähe von Havanna. In El Rincón, rund fünfzehn Meilen von hier entfernt. Sie ist dem heiligen Lazarus und Babalao gewidmet. Es heißt, wer dort hinpilgert, wird von seinen Leiden erlöst.«
»Sie meinen also, ich sollte das tun?«, fragte Titine. »Ich soll nach El Rincón gehen und Babalao ein Opfer bringen?«
Der ältere Mann wiegte den Kopf hin und her. »Babalao oder Lazarus. Wo ist da der Unterschied? Aber Sie sollten nicht einfach nur pilgern und ein Opfer bringen. Der Tag des heiligen Lazarus ist der 17. Dezember. Halb Havanna wird sich an diesem Tag dorthin auf den Weg machen. Manche der Pilger kriechen auf allen vieren die fünfzehn Meilen. Sie binden sich Steine an die Füße. Es heißt, so zu pilgern, ist das größte Opfer für Lazarus und Babalao. Und es heißt außerdem, dass niemand ungeheilt blieb, der dieses Opfer je erbracht hat. Einer meiner Freunde war dort. Oh, er hat gelitten. Kiloschwere Steine hatte er sich an die Füße gebunden. Und ja, er ist damit die ganze Strecke gekrochen. Seine Knie waren blutüberströmt, die Ellbogen bis auf die Knochen abgewetzt. Er ist für seinen kleinen Jungen dorthin gepilgert. Für seinen Jungen, der von einer Droschke überrollt worden war und seither nicht mehr laufen konnte. Nun, jetzt springt er mit den anderen Kindern herum.«
Titine nickte und lächelte sanft.
»Sie glauben mir nicht? Viele Weiße glauben mir nicht. Aber es ist wahr. In El Rincón kann man sein Leiden abladen.«
»Oh, doch, Cesare. Ich glaube Ihnen. Und wie ich Ihnen glaube. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde als die, die wir sehen und verstehen können. Und ich danke Ihnen, dass Sie mir von El Rincón erzählt haben.«
Sechstes Kapitel
J etzt hatte Hermann sich doch umgewandt, starrte seine Frau wütend an. »Ich will nicht, dass du so redest!«, herrschte er sie an.
»Verstehst du nicht?« Mafalda war wieder den Tränen nahe. »Wir sind verloren. Niemand will unseren Rum. Wovon sollen wir leben? Unsere Ersparnisse sind aufgebraucht. Dein ganzes Vermögen ist dahin. Schon jetzt türmen sich die Rechnungen. Ach, Hermann, was soll nur werden?«
Verzweifelt ließ sie die Schultern sinken.
Hermann erhob sich. Er tat es mühevoll, stützte sich dabei auf dem Schreibtisch ab, der unter seinem Gewicht ächzte. Plötzlich rutschte er ab, und Mafalda sprang auf, um ihm zu helfen, doch er wehrte sie mit der Hand ab, wandte sich um und steuerte mit unsicheren Schritten auf den Ledersessel zu. Kurz vor ihr blieb er stehen und hob die Arme, doch der linke schien ihm nicht zu gehorchen. Also riss er nur den rechten hoch, ließ ihn schwer auf Mafaldas Schultern sinken. Seine Hand krallte sich in ihr Fleisch. Er war von einem Augenblick zum nächsten blass geworden. Sein ohnehin schiefer Mund hatte sich noch mehr verzogen. Noch nie hatte Mafalda ihren Mann so gesehen. Weiß wie ein Geist und mit stahlhartem Glanz in den Augen. Sie hätte ihn gern gefragt, was er hatte, hätte ihn gern
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