Sternenkinder
Retrieval-Spezialist namens Tek ihm auf den Ärmel gedrückt hatte? Er wünschte, er hätte das Ding sofort weggeworfen – aber er hatte sich anders entschieden, rief er sich in Erinnerung, und trug es nun schon seit zwei Monaten mit sich herum.
»Warum wollen Sie dorthin, Luru Parz?«
Sie nickte, ohne den Blick von ihm abzuwenden. »Eine Warum-Frage. Kein guter Soldat fragt jemals warum. Aber du schon, Pirius! Gramm und seine Freunde legen Nilis weiterhin Steine in den Weg. Ich habe vor, sie zum Handeln zu zwingen. Unsere geliebte Koalition ist ein Berg der Lügen und der Heuchelei, wie du inzwischen sicherlich weißt. Mich persönlich stört das nicht; wahrscheinlich könnte sie anders nicht überleben. Aber die Drohung, sie zu entlarven, ist mein Hebel – und darum muss ich ins Archiv.« Ihre Augen wurden schmal, und sie beugte sich vor. »Mache ich dir Angst?«
»Sie machen mir immer Angst.«
Sie lachte und zeigte dabei ihre geschwärzten Zähne. »Das spricht für deine gesunden Instinkte! Aber dir ist doch klar, dass ich dasselbe Ziel verfolge wie Nilis, nicht wahr? Ein Ziel, das du dir trotz deiner lebenslangen Konditionierung instinktiv und unwillkürlich zu Eigen gemacht hast.«
Er traf eine Entscheidung. »Ich helfe Ihnen.«
»Ja, selbstverständlich«, sagte sie geringschätzig. »Wir treffen uns in Kahra.« Das virtuelle Bild löste sich auf und zerstreute sich.
Letzten Endes behielt Luru Parz Recht. Es fiel Pirius erstaunlich leicht, diese seltsame Reise zum Olympus zu organisieren.
Er benötigte die Erlaubnis des Kommissars, seine Korvette zu benutzen. Aber Nilis, der beim Saturn weilte, war noch immer vollauf beschäftigt mit Einzelheiten der Gravastern-Schildtests, seinen laufenden Forschungen über die ersten Momente des Universums, irgendeinem geheimnisvollen Auftrag im Kern, den fortwährenden Scharmützeln mit Gramm sowie der Koalitionsbürokratie und, und, und… Als Pirius anrief, machte er lediglich eine unbestimmte Handbewegung. »Nur zu, Pirius.«
Was den Zugang zum Archiv betraf, so hatte er Teks Chip. Es fiel ihm nicht schwer herauszufinden, wie das Interface funktionierte. Das verschmierte virtuelle Bild des Archivars beschrieb Pirius den Weg zu einem Einstieg auf dem Olympus – nicht zu demselben wie bei seinem ersten Besuch, sondern zu einem anderen der rund tausend, die sich über die mächtige Flanke des Berges verteilten.
Daher hatte er trotz seiner Furcht beim bloßen Gedanken an Luru Parz keine Ausrede, ihr die Bitte abzuschlagen.
Die Reise zum Mars verlief ereignislos. Pirius flog allein, bis auf die Crew der Korvette; während der gesamten interplanetaren Reise vertrieb er sich die Zeit mit Glücksspielen.
Wie versprochen, traf sich Luru Parz in Kahra mit ihm. Nach einer Übernachtung bestiegen sie einen Flitzer und unternahmen den letzten Sprung zum Olymp.
Sie landeten bei Koordinaten, die Pirius aus Teks Chip entnommen hatte. Als der Flitzer zu Boden sank, kam ihm die Situation – der sanft geneigte Hang, der staubgetränkte Himmel, die ausgewaschenen, rotbraunen Farben, die Luke im Boden – genau so vor wie bei seinem letzten Besuch.
Tek ließ sie warten.
Luru Parz war die Ruhe selbst. »Wir müssen ihm Zeit lassen. Denk daran, er arbeitet verdeckt dort drin. Glaub mir, es ist schwierig, in dieser Umgebung unabhängig zu handeln.« Pirius wusste nicht, was sie meinte.
Er war unruhig und nervös. Der Flitzer war nicht viel mehr als eine Blase mit ein paar Meter Durchmesser. Seine Hülle war so transparent, dass sie ohne die dünne Schicht marsianischen Staubs unsichtbar gewesen wäre. Und Pirius hockte mit einer Unsterblichen darin fest.
Sie saßen einander in dem winzigen Flitzer gegenüber, so nah, dass ihre Knie sich beinahe berührten. Selbst in persona hatte Luru dieses Dunkle und Reglose, als fiele das Licht anders auf sie. Er konnte sie riechen, eine schwache, staubige, scharfe Ausdünstung, wie der Rauchgeruch der welken Blätter in manchen Ecken von Nilis’ widerspenstigem Garten.
Sie musterte ihn. »Erschrecke ich dich, Pirius? Ich bin die leibhaftige Verkörperung von allem, was du von Kindesbeinen an zu verachten gelernt hast. Jeder Atemzug, den ich mache, ist illegal.«
»Daran liegt es nicht.«
Ihre Augen verengten sich. »Nein, nicht wahr? Ich glaube, du bist nun schon lange genug im Sol-System, um Grautöne wahrnehmen zu können. Was ist es dann?«
»Sie sind der fremdartigste Mensch, dem ich jemals begegnet bin.«
Sie nickte.
Weitere Kostenlose Bücher