Sternenkinder
Schuldgefühle wegen der Art und Weise, wie Pirius auf Callisto »benutzt« worden war, und er schien es wieder gutmachen zu wollen, indem er sich mit ihm unterhielt.
Er sagte, seine »Callisto-Waffe« stamme in der Tat aus der Zeit der Qax-Besatzung. Pirius war erstaunt, dass Wigners Freunde, auf der Bogen-Basis seinerzeit eine illegale Sekte, solch tiefe Wurzeln hatten.
Damals waren die »Freunde« eine Rebellengruppe auf der Erde gewesen. In der Anfangsphase der Besatzung hatten die Qax ihre Herrschaft noch relativ zurückhaltend ausgeübt – und erstaunlicherweise war es den »Freunden« gelungen, direkt vor der Nase der Besatzer ein komplettes, mit Schwarzlochkanonen bestücktes Raumschiff zusammenzubauen.
Die »Freunde« hatten gewusst, dass sich bald eine Wurmloch-Brücke in die tiefere Vergangenheit auftun würde; dieses kühne, fünfzehn Jahrhunderte überspannende Unternehmen war von niemand anderem als Michael Poole durchgeführt worden. Als sich die Brücke öffnete, stürzten sich die »Freunde« mit ihrem Schiff in die Vergangenheit. Ohne sich um die Menschen von Pooles Zeit zu kümmern, hatten sie sich darangemacht, ihre Batterie schwarzer Löcher vorzubereiten – aber sie beabsichtigten nicht, die Kanonen als Waffen einzusetzen. Ihr Ziel war der Jupiter. Ihre Granaten aus verzerrter Raumzeit sollten im Innern des Gasriesen kollidieren und verschmelzen, wobei jede Kollision Gravitationswellenpulse aussenden sollte. Durch die Programmierung dieser Sequenz wollten die »Freunde« den Zusammenbruch des Jupiters herbeiführen und so das schwarze Loch formen, das dadurch letztlich entstehen würde.
»Das also ist mit dem Jupiter passiert«, sagte Pirius.
»Ja. Welch ein Denkmal!«
»Aber wenn sie Schwarzlochkanonen bauen und in die Vergangenheit reisen konnten, weshalb sind sie dann nicht einfach zur Heimatwelt der Qax geflogen und haben sie ausgelöscht?«
Nilis lächelte. »Da spricht der wahre Pragmatiker! Die ›Freunde‹ verfolgten nun mal philosophischere Ziele…«
Wigners erste Freunde hatten sich nach einem alten Philosophen benannt, der über die Rätsel der Quantenphysik nachgedacht hatte. Unter der Wahrnehmungswelt der Menschen befand sich ein Unschärfegerüst. Quantenfunktionen erfüllten den Raum, Beschreibungen der Wahrscheinlichkeit, die ein Partikel oder ein System regierte, und der Ort oder die Geschwindigkeit eines Partikels konnte nur durch die Beobachtung festgelegt werden.
»Dieser alte Philosoph namens Wigner führte diese Logik jedoch noch einen Schritt weiter«, erklärte Nilis. »Jede Beobachterin ist selbst ein Quantenobjekt – so wie alles um uns herum und auch wir selbst –, und unterliegt deshalb ebenfalls der Quantenunschärfe. Man braucht eine zweite Beobachterin, um sie und folglich auch ihre Beobachtung real werden zu lassen. Wenn Wigner der erste Beobachter ist, ist sein Freund der zweite.«
Pirius dachte darüber nach. »Aber was ist mit der Quantenfunktion des Freundes? Die ist nicht festgelegt, bis ein Dritter ihn beobachtet.«
»Du hast es kapiert«, sagte Nilis beifällig. »Und dann braucht man einen vierten und fünften.«
Pirius wurde schwindlig von all den Unendlichkeiten. »Aber ganz egal, wie viele Beobachter man hat, wie viele Freunde von Wigner man aufbietet, man braucht immer noch einen. Also kann nichts real sein.«
»Das nannte man das Paradoxon von Wigners Freunden«, sagte Nilis. »Aber die ›Freunde‹ glaubten, eine Lösung gefunden zu haben.«
Die Ketten ungelöster Quantenzustände würden sich immer weiter verlängern, würden wachsen wie Blumen und sich in die Zukunft erstrecken. Schließlich würden die gewaltigen Ketten von Quantenfunktionen dann an der letzten Grenze des Universums verschmelzen, in der zeitartigen Unendlichkeit.
»Und dort, behaupteten die ›Freunde‹, sei die Letzte Beobachterin zu Hause, das letzte intelligente Wesen. Alle Quantenfunktionen, alle Weltlinien müssen in dieser Beobachterin enden – denn sonst wäre sie nicht die letzte. Die Beobachterin macht sodann eine einzige entscheidende Beobachtung…«
»Und die Beobachtungsketten brechen zusammen.«
»Die Geschichte wird endlich real, aber erst ganz am Schluss.«
»Ich verstehe nur nicht«, sagte Pirius, »wie das den ›Freunden‹ helfen sollte, die Qax loszuwerden.«
Die »Freunde« waren zu der Überzeugung gelangt, dass die Letzte Beobachterin möglicherweise kein passives Auge sein, sondern eine Wahl haben würde: dass sie Einfluss
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