Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
den Augen seiner Clansbrüder herabsetzen, wo er sich tagtäglich ihrem Schutz anvertrauen mußte und auf ihren Beistand in den Harten Ländern angewiesen war? Er griff verzweifelt nach dem Bild von verbrannten Schafen. Es gab sonst keine andere Möglichkeit, sich in Trab zu halten.
Verbrannte Schafe, verbrannte Schafe, verbrannte Schafe ...
Er paßte sein Tempo den schrecklichen Silben an. Die anderen' stimmten ihren Lauf mit anderen Silben ab. Mit wütenderen Worten.
Töte die Barohna, töte die Barohna, töte die Barohna .
Garrid schnappte während des Laufens nach Luft. Wenn die Geschichten, die er über die Barohnas gehört hatte, wahr wären, konnte er es sich nicht vorstellen, wie sie ihr Ziel erreichen wollten. Er konnte sich nicht vorstellen, wie jemand eine Barohna töten konnte. Und doch lief er in seinem eigenen Rhythmus weiter, sein Herz barst fast.
Danior unterbrach die Verbindung bebend, aber der Rhythmus laufender Füße hielt an. Er hämmerte heftig in seinem Herzen. Jetzt wußte er, daß er nicht länger hierbleiben konnte. Daß er nicht hier herumsitzen und warten konnte. Er mußte versuchen, die Fon-Delars zu erreichen. Er mußte sich bemühen, sie zur Umkehr zu veranlassen. Ein hoffnungsloses Unternehmen, vielleicht war es das; aber etwas anderes fiel ihm nicht ein.
Keva hatte die Augen noch nicht geöffnet. Danior stand vorsichtig auf und bewegte sich auf die Tür zu. Draußen war es dunkel geworden. Nur das Licht der ersten Sterne war zu sehen. Tedni und Tinata flüsterten miteinander. Er horchte so lange, bis ihre Unterhaltung unzusammenhängender wurde und allmählich versickerte.
Dann sah er hinaus. Tedni schlief im Sitzen, gegen die Hüttenwand gelehnt. Tinata hatte sich ganz in seiner Nähe zusammengerollt, das Messer war ihr aus der Hand gefallen. Danior zögerte einen Augenblick und entfernte sich dann lautlos von der Hütte.
Die Nachtluft war kühl. Sein Magen rumorte gereizt, und er hatte Durst. Doch er entschied sich dafür, kein Risiko einzugehen, indem er versuchte, Essen aus Tednis Beutel zu nehmen. Und er hielt auch nicht an, um etwas zu trinken. Er mußte versuchen, die Fon-Delars zu erreichen, sie zur Umkehr zu veranlassen. Er mußte versuchen, ihnen in ihrer Sprache zu sagen, daß ihre Attacke gegen den Größeren Clan auf einem Mißverständnis beruhte. Er preßte den Stein und blickte durch Garrids Augen zu den Sternen, um die Richtung zu bestimmen. Dann begann er zu laufen.
15 Keva
Ein- oder zweimal, während sie in den frühen Abendschatten der
tarnitse-Hütte
saß, glaubte Keva, eine angedeutete Einsicht, einen geflüsterten Hinweis zu hören. Nachdem es in der Hütte dunkel geworden war, sah sie einmal das Gesicht ihrer Mutter, jung, lachend. Sie klammerte sich an dieses freundliche Bild und versuchte zu begreifen, wie es ihre Mutter fertiggebracht hatte, in so kurzer Zeit so vieles gewesen zu sein: eine sogenannte Gefährtin, eine liebende Mutter, eine Barohna – und ein Mädchen, das vor seiner Zeit Pflichten auf sich genommen hatte und deren Last ertrug.
Keva war nur ein paar Jahre jünger, als Lihwa es gewesen war, doch sie hatte weder einen Geliebten noch ein Kind oder ein Volk. Und sie hatte Angst davor, das Feuerarmband anzurühren.
Schlimmer noch, sie wußte nicht einmal, ob der Mut darin bestand, das Feuerarmband anzunehmen und es gegen die Männer der Kleinen Clans zu benutzen – aufgeschreckten Männer, die ums Überleben kämpften –, oder darin, umzukehren, während die Leute ihres Vaters gegen die Männer der Kleinen Clans kämpften. Wie könnte sie diese Art von Mut rechtfertigen, wenn ihr Vater dabei sterben würde? Wenn Rezni verwundet würde? Wenn Tedni oder Resha entstellt oder verkrüppelt würden?
Sie holte tief Luft. Sie hatte ihr Dilemma zur
tarnitse-
Quelle getragen, und das Wasser sagte ihr nichts.
Offenbar sagte es auch Danior nichts. Auf ein schwaches Geräusch hin öffnete sie die Augen und sah, daß er sich zur Tür bewegte. Erstaunt beobachtete sie, wie er eine Weile hinausspähte und dann durch die Tür schlüpfte. Sie zögerte, erwartete, daß er mit Tedni sprechen würde. Als das nicht geschah, stand sie steif auf und ging zur Tür.
Tedni und Tinata schliefen. Undeutlich sah sie, wie Danior in der Dunkelheit verschwand. Er lief. Sie holte überrascht Luft. Hatte er etwas aus dem Gedanken-Stein erfahren? Lief er nach Pan-Vi zurück, um ihren Vater zu warnen?
Aber wenn er nach Pan-Vi wollte, warum lief er dann nach Osten,
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