Stille Seele (German Edition)
„Ich werde Thomas Bescheid sagen, dass er das Gerücht streuen soll, dass ihr mit deinem Wagen in Richtung Süden unterwegs seid und werde versuchen, so weit wie möglich zu ko mmen, bevor sie merken, dass sie uns auf den Leim gegangen sind!“ Er zögerte kurz. „Ich liebe dich wie meine kleine Schwester, Julie. Passt auf euch auf!“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und rannte dann, das Handy schon am Ohr, zu Julies Wagen.
Tränen liefen Julie als einzige Reaktion über die Wangen. Ihr Kö rper und ihr Blick wirkten erstarrt. Sie war blass und die Distanz, die von ihr ausging, machte Jakob Angst.
„Julie?“ Sie zuckte zusammen, als er sie leicht am Arm berührte. „Es ist noch nicht zu spät! Du musst nicht mitkommen. Ich würde es verstehen!“
Noch immer mit starrem Blick schüttelte sie den Kopf, zog dann geräuschvoll die Nase nach oben und erwiderte tonlos: „Nein, sie werden uns nicht auseinander bringen. Ich werde meine Sachen packen und dann brauchen wir Geld und ich muss mich von Dad verabschieden und …!“ Ihr Blick irrte hektisch durch das kleine Zimmer.
Jakob hielt sie am Arm zurück, und das erste Mal, seitdem er im Motel aufgetaucht war, erwiderte sie seinen Blick, bevor sie ihn betr eten senkte. „Nein, Julie, ich muss jetzt los. Ich kann nicht warten. Ich kann nicht zurück in die Stadt. Ich kann nicht zurück zu deinem Dad!“
„Nicht zu Dad!“ Mechanisch wiederholte sie die Worte, machte sich los und fing an, ihre Klamotten wahllos in ihre Tasche zu werfen.
„Julie!“
„Was?“ Sie schrie und Tränen strömten ihr aus den Augen.
Jakob zuckte zurück und wusste nicht, was er erwidern sollte.
„Pack endlich deine Sachen. Sie werden dich nicht kriegen, diese Arschlöcher!“ Ihr Gesichtsausdruck wechselte von verletzt und g eschockt zu kämpferisch und Jakob wusste, dass sie sich endgültig entschieden hatte. Für ihn und gegen ihr bisheriges Leben. Trotzdem konnte er sich nicht freuen. Er hätte sie nie vor die Wahl zwischen sich selbst und ihrem Vater stellen dürfen, und dennoch hatte der verboten egoistische Teil in ihm diese Beziehung zugelassen. Er hatte all dies hier wissentlich in Kauf genommen, nur um sich selbst besser zu fühlen, aber für Selbstvorwürfe war es jetzt zu spät. Eilig schmiss er seine Sachen in zwei Reisetaschen und wuchtete sein und ihr Gepäck nur Minuten später auf den Rücksitz des Wagens.
Dann hielt er inne. „Immer noch sicher?“ Er lächelte sie gezwungen an.
Julie nickte mit zusammengekniffenen Lippen. Jakob wusste, dass sie krampfhaft versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Er gab ihr einen Kuss und schob sie vorsichtig Richtung Wagen. „Steig ein, ich brauche nur noch eine Minute. Hab noch etwas vergessen!“ Schnell umrundete er das Motel und tauchte wenig später wieder auf.
In einem Dorf etwa fünfzig Meilen östlich von Marble Hills hielten sie das erste Mal, zogen alles verfügbare Geld von Julies Konto und fuhren dann in einem fast rechten Winkel nach Norden. Weg von Marble Hills, fort von ihrer Fährte. Jakob wurde ein weiteres Mal unsichtbar, hörte auf zu existieren, aber diesmal war er nicht allein.
16. März 2008, nördliches Manitoba
„Hallo, Schatz!“ Jakob betrat das schäbig eingerichtete Motelzimmer, durch dessen einfach verglaste Fenster unangenehm die Kälte drang. Es wurde nie richtig warm, aber was für Ansprüche konnte man an ein Doppelzimmer für gerade einmal fünfundzwanzig Dollar abseits der Touristenorte schon stellen?
Julie saß unter zwei dicken Decken auf dem Sofa und las in einem Buch. Sie wirkte angespannt und ihr Gesicht war blass.
„Wie war dein Tag?“
Ohne aufzusehen, erwiderte sie: „Anstrengend! Auf der Arbeit war die Hölle los! Du musst mit dem Typen vom Motel sprechen. Wir haben immer noch kein Warmwasser!“ Ihre Stimme klang frostig.
„Er wollte das doch schon gestern reparieren!“ Jakob rieb sich die von der Kälte rötlich gewordenen Finger und ließ seine schmerzenden Schultern kreisen.
„Hat er aber nicht, wie du siehst, oder hattest du heute Morgen warmes Wasser beim Duschen?“
Jakob versuchte, den aggressiven Unterton in ihrer Stimme zu ignorieren. Unwirsch schmiss er seine Handschuhe auf den Küchentisch und stellte den Wasserkocher an. „Ich musste heute Morgen schon um halb vier raus. Da habe ich nicht geduscht!“
„Ach so, und
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